Gesellschaft

Romane oder TV-Filme helfen dabei, uns an üble Zeiten zu erinnern

Der Unterschied zwischen Sentimentalität und Empathie ist mir geläufig. Aber geht nicht beides? Ich meine, kann man nicht mit beidem „geschlagen“ sein? Kenne ich überhaupt Leute, die von sich sagen würden, nicht empathisch zu sein?

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Der Unterschied zwischen Sentimentalität und Empathie ist mir geläufig. Aber geht nicht beides? Ich meine, kann man nicht mit beidem „geschlagen“ sein?

Kenne ich überhaupt Leute, die von sich sagen würden, nicht empathisch zu sein? Und gibt es – außer ein paar Frauen vielleicht, die ich kenne – Menschen, die sich freimütig dazu bekennen, bis auf die Knochen sentimental zu sein? Ich meine, ganz ohne, dass sie gerade in einer besonderen Stimmung sind oder zu viel getrunken haben? Unter Männern ist sowas selten zu finden.

Ich erinnere mich, dass ich meinen Onkel dafür ausgelacht habe, dass er beim Fernsehen – ich glaube, es lief Sissi – feuchte Augen bekam. Ich war vielleicht 10 Jahre alt. Es ist also ewig her. Heute passiert mir das andauernd. Ich sehe oder lese irgendwas Trauriges oder Anrührendes – schon kriege ich feuchte Augen. Ganz schlimm. Ich glaube, es wird immer schlimmer, je älter ich werde.

Aber es soll hier gar nicht um meine Befindlichkeiten gehen, sondern um etwas sehr Ernstes, etwas für das sich gewisse Leute in unserem Land nur noch widerwillig interessieren zu lassen scheinen. Ich denke da an Björn Höcke, den AfD-Mann. Der versucht, seinen lieben Deutschen beizubringen, das Joch der Schande jetzt langsam mal abzulegen und durchzuatmen.


Den ersten Teil der Romanverfilmung „Landgericht“ (Ursula Krechel) habe ich vorgestern im ZDF gesehen. Heute steht der 2. Teil auf dem Programm.

Schnell wurde klar, dass die im Mittelpunkt stehende Familie sich dazu entschlossen hatte, die beiden Kinder nach England in Sicherheit zu bringen. Der Film begann mit der Trennung der Familie. Manche jüdische Familie konnte Anfang der 1930er Jahre ihre Kinder in Sicherheit bringen. Vorausgesetzt, sie verfügten über die nötigen finanziellen Mittel. Wie grausam dieser Schritt für die Eltern, für alle betroffenen Familien, gewesen sein muss, macht der Film in diesen ersten Minuten überdeutlich.. Es gab die herzzerreißende Szene, in der der Vater dem anfahrenden Zug hinterher rannte und sich ein zweites Mal verabschiedete. Ein anderer Vater zog sein Kind aus dem Fenster des bereits anfahrendes Zuges. Er brachte es nicht fertig, sein Kind wegzuschicken.

Mich haben vor allem diese Szenen sehr berührt, obwohl ich geglaubt hatte, eine Vorstellung davon zu haben, wie Rettungsaktionen vielleicht abgelaufen sein könnten.  Aber das war erst der Anfang. Ich schreibe mir zugute, dass meine Tränen nicht nur dieser blöden und peinlichen Sentimentalität zuzuschreiben war, sondern dass echtes Mitgefühl mit dem Schicksal der Menschen eine Rolle gespielt hat.

Der Vater war Richter an einem Berliner Landgericht und schon bald nach Hitlers Machtergreifung belegte das Regime ihn mit einem Berufsverbot. Die Tatsache reichte aus, dass er Jude war. Im Film ist die Gegenwart des Nazi-Terrors allgegenwärtig. Der Druck unter dem viele Menschen damals gelitten haben, wird am Beispiel dieser Familie und ihrer Freunde fühlbar. „Arische Freude“ wandten sich ab. Die Menschen wurden in ihrem Leid alleingelassen. Eine Solidarisierung mit den Opfern der Willkür blieb aus.

Das sind Geschehnisse, die schwer zu ertragen sind. Meine immer wieder neu aufkommende Betroffenheit ist nicht darauf zurückzuführen, dass ich mich als Deutscher irgendwie besonders angesprochen fühlen würde. Das vielleicht irgendwie auch.

Aber wie hat ein kluger Mann mal gesagt?: Für die Dinge, die im Dritten Reich passiert sind, sind wir nicht verantwortlich. Aber wir sind dafür verantwortlich, dass so etwas nie wieder passiert!

Heute tue ich mich schwerer damit als früher, daran zu glauben, dass so viele Leute von dem, was ganz offen auf den deutschen Straßen geschah, nichts mitbekommen haben sollen. Auch, dass wir diese Phase unserer Geschichte stets beschreiben, in dem wir von „den Nazis“ und nicht etwa von „uns Deutschen“ reden, irritiert mich. Ich verstehe, dass es weh tun könnte, diese Hypothek mit uns herumtragen zu müssen. Aber haben wir das überhaupt je getan? Ich wurde 8 Jahre nach dem Krieg geboren.

Für mein Leben kann ich die Feststellung treffen, dass das Thema in unserem Geschichtsunterricht nicht stattfand. Oder wenn, dann nur sehr rudimentär. Der Wahnsinn des Krieges wurde relativ klar herausgehoben. Wir haben als Kinder in der Schule den Antikriegsfilm von Bernhard Wicki, „Die Brücke“ angesehen und anschließend darüber diskutiert.

Aber der Mord an 6 Millionen Juden, all der Schrecken, den unsere Vorfahren geteilt haben müssen, war bis Ende der 60er Jahre ein Tabu. Die, die das damals den Juden angetan haben, das waren die Deutschen. Und die waren überwiegend begeistert von Hitlers Visionen. Das wurde so aber nie explizit gesagt. Man ahnt es, wenn man die Massenaufläufe und alte Filmaufnahmen von Nazi-Großveranstaltungen anschaut.

Lieber arrangiert man sich mit dem Gedanken, es halt nie so richtig erfahren zu haben. Ja, wir wussten ja nicht, was die mit den Juden gemacht haben. Aber mir scheinen solche dialektischen „Finessen“ in unserer Gesellschaft bis heute zu stark verbreitet zu sein. Was war mit Schwulen, Zigeunern, mit Andersdenkenden? Wo haben diese Menschen gelebt? Nicht mitten unter uns?

In diesem Film wird überdeutlich, welches Leid Deutsche auch über ihre eigenen Landsleute gebracht haben. Ausschließlich deshalb, weil sie einer anderen Religion angehörten, weil sie Juden waren. Angesichts des Schreckens, der über all diese Menschen durch Deutsche gebracht wurde, muss man sich fragen, wie wir heute darüber denken.

Diejenigen von uns, die flüchtlingsfreundlich denken oder diese gar persönlich unterstützen, sind schon vor einiger Zeit zu Gutmenschen abgestempelt worden, die für rationale Maßnahmen und das Sicherheitsbedürfnis der einheimischen Bevölkerung jeden Sinn verloren haben. Die alten Mechanismen des DIE und WIR funktionieren immer noch.

Die besorgten Bürger machen sich Gedanken über sich und ihre Familien. Aber was kümmern sie diese armen Schlucker, die aus den unterschiedlichsten Gründen nach Deutschland gekommen sind? Sollen sie doch an den jetzt so toll durch Victor Orban und seine fanatischen Krieger beschützen Außengrenzen der EU verreckten. Was kümmert uns das? Hauptsache, sie erreichen Deutschland nicht. Den Grund dafür, dass trotzdem Hunderttausende auch im letzten Jahr gekommen sind, schreiben die Menschenfeinde den von unserer Regierung organisierten Nachtflugaktionen zu.Was kümmert es die, dass solche Verschwörungstheorien wer weiß wie oft wiederlegt worden sind? Das ist nur ein Beispiel von allen möglichen Unterstellungen, die immer wieder kursieren.

Das erzeugt weiteren Unmut gegen die Regierung und dieses ganze unnütze demokratische System bei den Deutschen (siehe Hassloch), die ja so viel Angst vor den „Asylbetrügern“ oder „Asylforderern“ haben, denen „man es vorne und hinten reinstecke“.

Vielleicht müssen sie was abgeben von ihren sauer verdienten Euros oder, was natürlich noch schwerer wiegt, ihre Töchter werden von lüsternen schwarzen Männer vergewaltigt. Wenn ich dagegen anschreibe, kriege ich nicht selten zu hören, dass meinen Angehörigen hoffentlich nicht mal sowas passiert. Da gibts kein Vertun. Auch wenn derart bedrohliche Szenarien noch im virtuellen Raum ablaufen.

Damals war es so, als alles vorbei war und der deutsche Wahnsinn 60 Millionen Todesopfer gekostet hatte, dass die Amerikaner versucht haben, eine Entnazifizierung durchzuführen. Dass das nur sehr eingeschränkt bis gar nicht gelungen ist, zeigt der heutige zweite Teil des TV-Filmes anhand eines sehr persönlichen Beispieles. Ich glaube, wir können uns vorstellen, dass solche Schicksale nicht zu bewältigen sind. Weder rational noch emotional.

Solche „Nachrichten“, die heutzutage im Internet verbreitet werden, nehmen viele für bare Münze:

Bis jetzt haben muslimische Krieger etwa 270 Millionen Menschen getötet. Das ist mehr als jeder Einzelne, jedes Land, jede Gruppe oder jedes Weltreich jemals in der Geschichte getötet hat. Bei weitem. An zweiter Stelle steht das kommunistische China, das 77 Millionen Menschen getötet hat.

Ich verlinke die Quelle hier nicht. Den Dreck kann man googeln. Genau wie den von jenen Leuten, für die immer noch ihre „Wahrheit“ über den Holocaust verbreiten.

Welche Absichten die Autoren solcher Sätze verfolgen, muss ich nicht ausführen. Es geht darum, Menschen gegeneinander aufzustacheln und konkret darum, Muslime auszugrenzen. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wir leben aktuell in Deutschland mit ca. 5 oder 5 1/2 Millionen Muslimen zusammen. Viele von ihnen haben längst die deutsche Staatsangehörigkeit und sind bestens in unser Land integriert. Andere müssen durch die Folgen der Flüchtlingskrise in den nächsten Jahren hier eine fest Heimat finden, und sicher gehen viele auch wieder in ihre Heimatländer zurück.

Was jeder spürt und sieht, ist, dass sich die Haltung vieler Deutscher gegenüber muslimischen Mitbürgern sehr zum Schlechten hin verändert hat. Wenn ich jetzt schreibe, dass wir das nicht zulassen dürfen, was glaubt ihr, wie viele Menschen fühlen sich angesprochen fühlen oder sogar zum Handeln aufgefordert?

Ich sehe beim Spazieren oder Einkaufen Familien mit einem oder mehreren Kindern. Vielleicht stammen sie aus Syrien und sie sind 2015, 2016 oder schon vorher zu uns gekommen. Ich beobachte sie ein bisschen und freue mich über das, was ich sehe. Sehr sogar. Die meistens noch kleinen Kinder laufen oder fahren mit ihren Rädchen neben ihren Eltern. Sie lachen und sind vergnügt. Ich frage mich in so einem Moment, was diese oft noch jungen Leute schon an schlimmen Schicksalen hinter sich haben. Ist Deutschland für sie ein Land, das ihnen die Sicherheit gibt, die sie für eine lange Zeit verloren hatten?

Es interessiert mich nicht wirklich, dass mich meine rechten Freunde in Diskussionen im Internet als sentimentalen Gutmenschen abtun, der außerdem keine Ahnung davon hat, was wirklich auf dieser Welt wirklich abgeht. Mir sind Momente wichtiger. Solche, die ich versucht habe, ein bisschen zu beschreiben. Ich finde, es dürfte mehr Empathie in dieser komplizierten und verwirrenden Welt geben! Und wenn es Sentimentalität ist – auch nicht schlimm. Allemal besser, als nichts mehr zu fühlen.

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Quelle Featured-Image: HorstSchulte.com

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