Partizipation durch Zerstörung

HS230625

Horst Schulte

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Wir füh­ren uns gern gegen­sei­tig vor. Ob wir die sich bie­ten­den Chan­cen mit Augen­zwin­kern, kras­ser Ableh­nung oder über­trie­be­ner Zustim­mung nut­zen, häu­fig blei­ben „Ver­letz­te“ zurück. Das ist uns egal, scheint es. Haupt­sa­che, wir krie­gen es hin, wesent­li­che Facts zwi­schen Pop­corn und Misch­ge­tränk nicht zu verpassen. 

Ob es tat­säch­lich Fak­ten sind, liegt allein im Auge des Betrach­ters und/​oder der eige­nen Peer­group. Das neh­men wir nicht so eng. Wir sind auf­nah­me­fä­hig, solan­ge die Rich­ti­gen es sagen.

Besteht unser vor­geb­li­cher Wunsch nach mehr Par­ti­zi­pa­ti­on an poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen wirk­lich oder über­wiegt nicht ein Hang zur Dekonstruktion? 

Das Inter­net ist für vie­le von uns ein sakro­sank­tes Vehi­kel für alles mög­li­che – vor allem natür­lich die eige­ne Mei­nung. Ich sage das, obwohl ich mich als lang­jäh­ri­ger Blog­ger mit Kon­takt zu den sozia­len Medi­en der „Netz­ge­mein­de“ zuge­hö­rig füh­len soll­te. Statt­des­sen füh­le ich mich zuneh­mend fremd und bin ein übers ande­re Mal ver­stört. Wahr­schein­lich bin ich zu alt und zu blöd, um stets nur die guten Sei­ten des Net­zes zu beto­nen und vor allem zu reflektieren. 

Men­schen ohne Netz­af­fi­ni­tät und Erfah­run­gen mit sozia­len Netz­wer­ken schei­nen für poli­ti­sche Ämter der Gegen­wart unge­eig­net. So tönt es aus dem Netz.
Nico Lum­ma for­dert fol­ge­rich­tig: „Es müs­sen ande­re Leu­te her, Leu­te, die das Digi­ta­le wirk­lich ver­ste­hen. Das ist ein lang­sa­mer, müh­se­li­ger Pro­zess. Aber ein notwendiger!“ 

Demokratie

Das Inter­net könn­te der Kata­ly­sa­tor für Demo­kra­tie sein. Lei­der för­dert es aber vor allem den Frust vie­ler Men­schen, weil sie – wie ich ver­mu­te – nicht im Stan­de sind, der Men­ge an Infor­ma­ti­on und Des­in­for­ma­ti­on Herr zu wer­den bzw. die gra­vie­ren­den Unter­schie­de zu sehen. Nicht, dass sie ihn per se nicht ken­nen wür­den, sie sehen ihn nicht, weil sie viel­leicht nicht die Zeit haben, den Din­gen auf den Grund zu gehen. Friss oder stirb. So lau­tet dem­nach die Devi­se. Ein­ord­nun­gen von Jour­na­lis­ten exis­tie­ren zwar wei­ter­hin, sie wer­den aber nicht mehr unvor­ein­ge­nom­men akzep­tiert. Das ist an sich eine gute Ent­wick­lung. Schein­bar ist unse­re Lern­kur­ve aber längst nicht so steil, wie wir es uns wünsch­ten. Was bis zur Errei­chung einer neu­en Ebe­ne mit unse­rer Gesell­schaft und der Demo­kra­tie gesche­hen könn­te, macht wahr­schein­lich vie­len Leu­ten Sorgen.

Die pro­vo­kan­te The­se ist Trumpf. Dar­auf ein „fal­sches“ Wort vom Fal­schen (AfD, alter wei­ßer Mann, Fleisch­esser, Kli­ma­leug­ner, CDU-Vor­sit­zen­de) zieht – mit etwas Pech – ein vir­tu­el­les Todes­ur­teil nach sich.

Authentizität

Wir wün­schen uns authen­ti­sche Poli­ti­ker, die die Din­ge beim Namen nen­nen und uns nicht mit geüb­tem Poli­ti­ker­sprech lang­wei­len. Solan­ge es dem Main­stream gefällt, ist das pri­ma und es funk­tio­niert (manch­mal). Aber nie sehr lan­ge. Popu­la­ri­tät hat ihre Tücken. Bei­spie­le für den tie­fen Fall nach einer Hoch­pha­se gibt es schließ­lich genug.

Vom Kli­ma­ka­bi­nett hören wir, dass im Sep­tem­ber kon­kre­te Maß­nah­men­plä­ne zu erwar­ten sind. Egal, was wir von die­ser Ein­rich­tung hal­ten mögen, sei­ne Imple­men­ta­ti­on erklärt in der Brä­sig­keit des Ber­li­ner Poli­tik­be­triebs, dass mei­nes Erach­tens das Stop – Signal ver­stan­den wurde. 

Statt einer Time­line mit Mei­len­stei­nen gab es ges­tern wie­der „nur“ ein State­ment. Das ist viel zu wenig für die Kli­ma­ak­ti­vis­ten und für all die­je­ni­gen, die zum Bei­spiel nicht schnell genug von der Koh­le­ver­stro­mung weg­kom­men. Als ob es die Wider­stän­de in ande­ren Län­dern (neu­er­dings z.B. Polen, des­sen natio­na­lis­ti­sche Regie­rung bei den EU-Wah­len deut­lich gestärkt wur­de) gar nicht gäbe. 

Fri­day­For­Fu­ture, den Grü­nen und ihrer Anhän­ger­schaft geht alles nicht fix genug. Dabei sind sie es als die selbst­ver­ständ­li­chen Nut­zer (Nati­ves) des Inter­nets doch gera­de, die – anders als natio­na­le Poli­ti­ker und vor­ran­gig natio­nal agie­ren­de Par­tei­en – einen offe­nen Blick für die Inter­de­pen­den­zen haben soll­ten, die die Glo­ba­li­sie­rung im Guten wie im Schlech­ten mit sich bringt.

Das welt­wei­te Inter­net bie­tet alle Vor­aus­set­zun­gen, um die in den ers­ten zehn Arti­keln unse­rer Ver­fas­sung ver­an­ker­ten Grund­rech­te aller Bür­ger in die­sem Land aus­zu­höh­len. Dies gilt ins­be­son­de­re für das Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung und Pres­se­frei­heit in Arti­kel Fünf – eine wesent­li­che Grund­la­ge unse­rer funk­tio­nie­ren­den Demo­kra­tie – und es gilt letzt­lich auch für den Kern­satz unse­rer Ver­fas­sung, den Arti­kel Eins des Grund­ge­set­zes: Die Wür­de des Men­schen ist unan­tast­bar.

Um sol­che Gefah­ren für unser aller Frei­heit künf­tig rich­tig ein­schät­zen und Ver­trau­en in das Medi­um för­dern zu kön­nen, müs­sen wir dem Inter­net und sei­nen Nut­zern mehr Sen­si­bi­li­tät, mehr Auf­merk­sam­keit und For­schung wid­men.

Quel­le: Joa­chim Gauck, bevor er Bun­des­prä­si­dent wur­de.
https://www.divsi.de/publikationen/studien/divsi-milieu-studie/vorwort-des-divsi-schirmherrn-joachim-gauck‑4/

Dar­an, wie die­se Sät­ze damals auf­ge­nom­men wur­den, erin­ne­re ich mich noch gut. Die Reak­tio­nen im Netz waren typisch und sind es bis heu­te. Wir mei­nen, wir hät­ten mehr Durch­blick als „die Poli­ti­ker“. Aber wenn es um die Risi­ken geht, die das Inter­net für unse­re Frei­heit dar­stellt, ver­schlie­ßen mir zu vie­le die Augen. Es klingt oft ein biss­chen wie: „Die­ses Spiel­zeug lass ich mir doch von dir nicht weg­neh­men!“ Als ob es dar­um ginge.

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: Gesellschaft Politik Rezo

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