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Fräulein oder die gute alte Zeit

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von Horst Schulte

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Vor 50 Jahren, am 16. Januar 1972, sorgte ein Erlass des ehemaligen Innenministers, Hans-Dietrich Genscher, dafür, dass das Wort Fräulein in Behörden verschwand. Ich hatte es gut. Meine Schulzeit war schon vorbei. Es bestand nicht mehr die Gefahr, das Fräulein Lehrerin zu brüskieren, weil ich mich nicht schnell genug auf die Neuerung eingestellt hatte. Die woke Community (Sprachpolizei) gabs noch nicht, so dass kein Stress aufkam, nur wenn jemand sich mal im Ton vergriff.

Warum benutzen die Briten eigentlich immer noch Miss und Misses? Sind die einfach rückständig oder haben wir deutschen schlicht nen Knall? Im Business wird die Anrede Miss angeblich nicht mehr verwendet, während er im privaten Bereich immer noch normal ist. Woran erinnert diese schon so lange zurückliegende Maßnahme mich bloß?

Fräulein Agnes

Einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben war Fräulein Agnes. Als meine Eltern und ich (meine Schwester war noch nicht geboren) 1957 auf den Sonnenhof umgezogen sind, war ich noch keine vier Jahre alt. Den Tausch der kleinen Mietwohnung gegen den zur Gärtnerei gehörenden Bungalows nahm ich höchstens als den Bestandteil eines Gesamtpakets wahr, das unsere Lebensumstände ausmachte. Ich lernte neue Menschen in unmittelbarer Umgebung kennen. Da waren die drei Gehilfen meines Vaters, die unter seiner Leitung das riesige Grundstück und die großen Gärten in Schuss hielten und eine Reihe anderer Personen, die mit uns auf dem Sonnenhof lebten.

Fräulein Agnes war die Köchin der Unternehmerfamilie, denen der Sonnenhof gehörte. Sie stammte aus Schlesien und war mit ihrer Familie nach dem Krieg unter schwierigsten Bedingungen in den Westen Deutschlands geflohen. Meine Großeltern lebten nicht mehr. Als ich Fräulein Agnes zum ersten Mal begegnet bin, war sie erst 50 Jahre alt. Ihr Haar war bereits schlohweiß. Ich hatte ab diesem Zeitpunkt unerwartet doch so etwas eine Oma. Meine Eltern und sie haben sich recht schnell angefreundet. Sie war oft bei uns. Ich besuchte sie häufig in ihrer Küche im Haupthaus. Ein legendärer Spruch, den ich kaum je vergessen werde, lautete: „Wirschte wohl aus mene Kiche gehn“. Das hörte ich selten, aber wenn der Satz fiel, war Vorsicht geboten. Sie hatte das Regiment – und nicht nur in ihrer Küche!

Die Eigentümer des Sonnenhofs hatten anfangs zwei Hunde. Einen Boxer und einen Dackel. Dackel Moritz war schon etwas älter. Der Boxer tapste aus einer großen Transportschachtel. Unser erstes Zusammentreffen fand in Agnes‘ Küche statt. Moritz und Arco waren ab diesem Zeitpunkt unsere treuen Begleiter und selbst die engsten Freunde, die man sich nur denken könnte. Die wichtigste Bezugsperson für beide Hunde war dennoch immer sie.

Wenn Fräulein Agnes kochte, durfte ich zusehen. Eine Weile wollte ich Koch werden, weil ich von ihrer Virtuosität in der Küche so absolut begeistert war. Ich schwöre, es lag nicht bloß daran, dass ich hin und wieder probieren durfte! Wenn die Vorbereitungen in ihre heiße Phase gingen, weil eine größere Gruppe von Gästen zu Besuch kam und es dann in der Küche richtig rund ging, wurde ich mit den bekannten Worten hinauskomplimentiert.

Einmal wurden einige Kisten mit Flusskrebsen aus Portugal angeliefert. Ich mag nicht beschreiben, wie die Zubereitung der Tiere ablief, es war gruselig. Das hielt mich aber überhaupt nicht davon ab, zu kosten. Leute, es schmecke großartig. Zu jener Zeit war ich noch nicht eingeschult. Vom Kochen bin ich dann später abgekommen.

Mein Vater und Fräulein Agnes hatten am gleichen Tag Geburtstag. Die Geburtstagsfeiern am 1. August gehören zu meinen schönsten Erinnerungen.

Fräulein Agnes starb 1999 im Alter von 93 Jahren in einem Altersheim. Sie blieb ihr Leben lang unverheiratet. Sie war sehr belesen, ich mochte die Diskussionen mit ihr über alle möglichen verschiedenen Themen des Lebens. Sie war immer auf der Höhe der politischen und gesellschaftlichen Themen unserer Zeit. Mir ist es allerdings nie gelungen, ihre politischen Präferenzen eindeutig zu klären. Dafür war sie zu diplomatisch. Ich glaube nicht, dass sie, wie meine Familie und ich, je SPD gewählt hat. Jedenfalls war sie im besten Sinne liberal und weltoffen. Sie gehört zu den Menschen, von denen ich sage, dass ich sie auch nach so langer Zeit sehr vermisse. Für mich war sie bis zu ihrem Tod Fräulein Agnes. Das mag für manchen angesichts ihres Alters etwas despektierlich oder sogar würdelos klingen. Aber für mich und alle in der Familie war es normal und kein bisschen komisch. Sie hat es nie gestört und sie hat nie auf eine Änderung gedrängt. Wir bleiben bis zu ihrem Tod beim Sie.

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