Sonnenhof: Erinnerungen an eine verlorene Idylle

6 Minute/n


Merken

0

Der Son­nen­hof hat­te für uns Kin­der etwas Para­die­si­sches. Mei­ne Schwes­ter wur­de dort gebo­ren. Ich bin fünf Jah­re älter als sie und war etwa drei Jah­re alt, als wir dort­hin zogen. 

Mein Vater, damals 29 Jah­re alt, kehr­te nach fünf Jah­ren rus­si­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft nach Hau­se zurück. 1939 wur­de er ein­be­ru­fen und erst 1949 kam er heim. Wie vie­le in sei­ner Lage ver­such­te er, wenigs­tens ein Fit­zel­chen der ver­lo­re­nen zehn Lebens­jah­re nachzuholen.

Mei­ne Mut­ter und er lern­ten sich im Som­mer in der „Bade­an­stalt“ unse­res Städt­chens ken­nen. Sie erzählt noch heu­te, dass sie von sei­nen wun­der­ba­ren, wei­ßen und makel­lo­sen Zäh­nen begeis­tert gewe­sen sei. Ich den­ke, es war wohl mehr als das, schließ­lich hielt ihre Ehe über fünf­zig Jah­re. Mei­ne Mut­ter war 19 Jah­re alt, als sie mei­nen Vater ken­nen­lern­te. Sie küm­mer­te sich als Ältes­te allein um ihren Bru­der und ihre klei­ne Schwes­ter, die drei waren schon seit Jah­ren Voll­wai­sen. Mein Vater über­nahm gewis­ser­ma­ßen die väter­li­che Rol­le. Als gelern­ter Gärt­ner fand er eine Stel­le auf dem Son­nen­hof, wo er für die gärt­ne­ri­sche Pfle­ge eines gro­ßen Pri­vat­be­sit­zes ver­ant­wort­lich war. Der Besitz gehör­te einem der Indus­tri­el­len der Stadt.

Neben sei­nem Chef gab es in der Gärt­ne­rei noch drei wei­te­re Gärt­ner. Mit­te der 50er-Jah­re ver­starb der Chef mei­nes Vaters, und mein Vater trat des­sen Nach­fol­ge an. Damit war unser Umzug auf den Son­nen­hof in ein „eige­nes“ Haus beschlos­se­ne Sache. Ein Haus mit Zen­tral­hei­zung und Bade­zim­mer – ein wah­rer Luxus damals. Anfang der 1970er muss­te der Son­nen­hof dem Rhein­braun-Tage­bau wei­chen, und wir zogen in eine Miet­woh­nung in Ble­ri­chen. Dort gab es kei­ne Hei­zung. Den Unter­schied habe ich damals ken­nen­ge­lernt. Man gewöhnt sich halt leich­ter an posi­ti­ve Veränderungen.

Der Son­nen­hof lag gleich neben der Gärt­ne­rei, zwei rie­si­ge Gär­ten lagen kei­nen Stein­wurf von unse­rem Haus ent­fernt. Die Fami­lie Holt­kott, die Besit­zer des Anwe­sens, führ­te neben den RLB-Wer­ken in Bedburg auch ein mit­tel­gro­ßes Hotel in Köln. Dafür wur­den unzäh­li­ge Blu­men, Gemü­se und alles Mög­li­che gebraucht. Mei­ner Schwes­ter und mir man­gelt es nicht an wun­der­ba­ren Erin­ne­run­gen an eine rich­tig schö­ne Kind­heit. Unse­re Freun­de, die den Son­nen­hof kann­ten, tei­len bis heu­te unse­re Begeisterung.

Ich möch­te eine Geschich­te erzäh­len, die pas­siert ist, als ich unge­fähr fünf Jah­re alt war. Zu einer Zeit, als mei­ne Schwes­ter noch nicht gebo­ren war. Auf dem Gelän­de des Son­nen­hofs gab es einen klei­nen land­wirt­schaft­li­chen Betrieb, einen Ten­nis­platz, ein Schwimm­be­cken, einen See­ro­sen­teich und zwei gro­ße Wei­den für Kühe. Schwei­ne und Hüh­ner gab es auch. Für die Pfle­ge der Kühe war ein soge­nann­ter „Schwei­zer“ zustän­dig. Jeden Abend gab es für uns einen Liter fri­sche Milch. Die­se wur­de nach dem Mel­ken in der Milch­kü­che bear­bei­tet, sodass sie nur noch abge­kocht wer­den muss­te. Mei­ne Auf­ga­be war es, unse­ren Liter Milch abends abzu­ho­len und in unse­re Küche zu bringen.

Eines Abends, es war schon fast dun­kel, woll­te mein Vater die gera­de von mir abge­lie­fer­te Milch kochen. Mei­ne Mut­ter war noch zum Ein­kauf in Bedburg. Wir hat­ten nie ein Auto, des­halb wur­den die wöchent­li­chen Ein­käu­fe zu Fuß oder mit dem Rad erle­digt. Bedburg lag etwa drei bis vier Kilo­me­ter vom Son­nen­hof ent­fernt. Zur Schu­le in Bedburg war es eben­falls ein lan­ger Weg, auch mit dem Rad.

Unse­re Küche war groß. Neben dem Koh­le­ofen gab es noch einen Elek­tro­herd, einen Tisch mit vier Stüh­len und eine gro­ße Couch. In der Ecke stand ein altes Radio, das stän­dig lief. Ein Kühl­schrank fehl­te damals noch. Zum Küh­len dien­te der Kel­ler, in dem es ein mit Flie­gen­draht abge­trenn­tes Schränk­chen gab. Der Licht­schal­ter in der Küche bestand aus einer Quas­te, die ich spä­ter als einen Hauch von Luxus bezeichnete.

Mein Vater stand am Herd und war dabei, die Milch abzu­ko­chen. Ich hat­te Lan­ge­wei­le. Gro­ße Lan­ge­wei­le. Ich wedel­te ein biss­chen mit der Quas­te und ließ sie hin und her pen­deln. Mein Vater bekam das mit und ermahn­te mich, jetzt bloß nicht das Licht aus­zu­schal­ten. „Die Milch kocht gleich!“ Gute Idee, dach­te ich. Ich war­te­te, bis die Milch auf­koch­te und mein Vater Anstal­ten mach­te, mit den zwei Topf­lap­pen den hei­ßen Milch­topf vor­sich­tig vom Herd zu neh­men. In die­sem Moment … Klick. Licht aus. Es war stock­fins­ter. Ein Schrei, Wut. „Hooo­orst!“

Die Ope­ra­ti­on war also gelun­gen, und ich war des­halb schon eiligst unter­wegs nach drau­ßen. Ich durch­quer­te schnell den lan­gen Flur. Gleich vor unse­rem Haus stand eine Hecke. Sie umgab bei­na­he die gesam­te Front der Gärt­ne­rei und stell­te für mich als damals Fünf­jäh­ri­gen noch ein Hin­der­nis dar. Mein Vater und ich spiel­ten zwi­schen­durch gern mal Olym­pia­de. Eine der Dis­zi­pli­nen war das Über­sprin­gen die­ser Hecke. Wür­de mir das aus­ge­rech­net heu­te in die­ser Not­la­ge zum ers­ten Mal gelin­gen? Es war drin­gend nötig, denn mein Vater war bereits kurz hin­ter mir. Ich nahm Anlauf und … Mist! Ich blieb hän­gen und fiel fast aufs Gesicht. Das war nicht wei­ter schlimm, aber der Sturz raub­te mir den Vor­teil. Mein Vater hat­te mich am Schlafittchen.

Ich erin­ne­re mich nicht dar­an, wie die anschlie­ßen­de Stand­pau­ke aus­fiel. Schla­gen war kein Erzie­hungs­mit­tel mei­ner Eltern. Ich weiß noch, dass es spä­ter vier‑, viel­leicht fünf­mal Situa­tio­nen gab, in denen mein Vater die Beherr­schung ver­lor und mir eine geklatscht hat. Das war spä­ter. Im ers­ten Schul­jahr bekam ich von einem Leh­rer eine Ohr­fei­ge, weil ich nicht auf­ge­passt hat­te. Damals, Anfang der 60er Jah­re, war das noch ganz nor­mal. Nicht für mei­nen Vater. Er fuhr – mit dem Rad – zur Schu­le und sag­te dem Leh­rer sei­ne Mei­nung. So war das. Die­ser Leh­rer und ich wur­den kei­ne Freun­de. Als er sich, ich war schon in der vier­ten Klas­se, den Arm brach, lern­te ich im Blitz­ver­fah­ren, wie sich Scha­den­freu­de anfühlt.

Die Geschich­te geht noch wei­ter: Nach­dem Papa mich also gestellt hat­te, folg­te die Ansa­ge: „Ab ins Bett!“ Wenig spä­ter kam mei­ne Mut­ter nach Hau­se und frag­te sofort: „Wo ist der Jun­ge?“ „Im Bett!“ ant­wor­te­te Papa ein wenig zu harsch. „Wie im Bett, was ist denn pas­siert?“ Ich erin­ne­re mich dar­an, dass ich Spaß hat­te, dass die bei­den jetzt Knatsch hat­ten. Schlim­mes Kind! Am nächs­ten Mor­gen war alles wie­der gut.

Diesen Beitrag teilen:
0CDD5CFF 182F 485A 82C6 412F91E492D0
Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: Bedburg Geschichte Kindheit Sonnenhof

Quelle Featured-Image: sonnenhof luftaufnahme 270196135 o...

Letztes Update:

Anzahl Wörter im Beitrag: 1079
Aufgerufen gesamt: 69 mal
Aufgerufen letzte 7 Tage: 7 mal
Aufgerufen heute: 1 mal

Lass deinen Gedanken freien Lauf


Hier im Blog werden bei Abgabe von Kommentaren keine IP-Adressen gespeichert! Deine E-Mail-Adresse wird NIE veröffentlicht! Du kannst anonym kommentieren. Dein Name und Deine E-Mail-Adresse müssen nicht eingegeben werden.


✅ Beitrag gemerkt! Favoriten anzeigen
0
Share to...
Your Mastodon Instance