Reformbereitschaft nicht nur im Bereich der Sozialleistungen

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Ideogram: Reformbereitschaft in Deutschland

Der Staat ist festgefahren. Wir brauchen Reformen in vielen Bereichen. Nicht nur - wie suggeriert wird - bei den Sozialleistungen. Wie steht es um die Bereitschaft der Bürger, dabei mitzumachen bzw. diese Bemühungen zu unterstützen?

Wenn Markus Lanz in sei­ner gest­ri­gen Sendung min­des­tens zwei­mal behaup­tet, Deutschland sei in sei­ner Wirtschaftsstruktur im 19. Jahrhundert ste­hen geblie­ben, und kei­ner der ande­ren Talkgäste die­sen Irrtum kor­ri­giert, könn­te dies bei den Zuschauern Zweifel an deren Kompetenz wecken. Es offen­bart sich, dass Lanz den Sprung ins 21. Jahrhundert auch bis jetzt nicht geschafft hat.

Es kann auf Dauer nicht gut­ge­hen, wenn jede Frage nach einer höhe­ren Effizienz des Sozialstaates tabui­siert wird. 

Peer Steinbrück

Steinbrück und die Reform des Sozialstaates

Der ehe­ma­li­ge Finanzminister Steinbrück (SPD) steu­er­te zur all­ge­mei­nen Klage der Runde über Deutschlands Status quo ein paar Anekdoten bei. Dabei ließ ihn mMn sei­ne Erinnerung gele­gent­lich im Stich. Im Kern lag er aller­dings richtig.

Die „Initiative für einen hand­lungs­fä­hi­gen Staat” geht aus von den ehe­ma­li­gen Bundesministern Peer Steinbrück und Thomas de Maizière, dem Staatsrechtler und lang­jäh­ri­gen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, und der Managerin und Aufsichtsrätin Julia Jäkel. Sie wol­len ins­be­son­de­re der Frage nach­ge­hen, war­um vie­le not­wen­di­ge Reformen bereits im Ansatz schei­tern und wie unser Staat struk­tu­rell hand­lungs­fä­hi­ger und effek­ti­ver gemacht wer­den kann. Wie also Reformen bes­ser gelin­gen kön­nen. Dazu wol­len sie kon­kre­te Vorschläge erar­bei­ten las­sen. Unterstützt wer­den die Initiatoren bei ihrer Arbeit von vier renom­mier­ten Stiftungen: der Hertie Stiftung, der Fritz-Thyssen-Stiftung, der Stiftung Mercator und der Zeit Stiftung Bucerius.


Quelle

Die Leistungen des Sozialstaats sind nicht ziel­si­cher und las­sen auch bei Zeitgenossen, die auf gar kei­nen Fall an den Sozialleistungen etwas geän­dert sehen wol­len, eine lei­se Skepsis auf­kom­men. Das Beispiel Bürgergeld mit sei­nen vie­len Facetten und Negativbeispielen lässt viel Raum für Kritik.

Steinbrück beschrieb ein pri­ckeln­des Beispiel, das der Normenkontrollrat des Bundes im März in einem Gutachten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht hatte.

Hier die Beschreibung des Falles aus dem Gutachten vom März 2024:

Familie 2 – „Der allein­er­zie­hen­de Vater mit pfle­ge­be­dürf­ti­ger Mutter“

Der allein­er­zie­hen­de Vater einer fünf­jäh­ri­gen Tochter, die vor dem Übertritt vom Kindergarten in die Grundschule steht, ist nach der Insolvenz sei­nes Arbeitgebers arbeits­su­chend. Aktuell besucht er eine von der BA finan­zier­te Umschulung in Teilzeit. Die Mutter der Tochter zahlt kei­nen Unterhalt. Die Mutter des Vaters ist pfle­ge­be­dürf­tig und lebt im gemein­sa­men Haushalt.

Die Familie bezieht als Bedarfsgemeinschaft bedürf­tig­keits­ab­hän­gi­ge Leistungen, Versicherungsleistungen und Leistungen aus dem Familienleistungs- und Familienlastenausgleich:

Bewertung der Komplexität

Insgesamt hat die Familie Anspruch auf zwölf unter­schied­li­che Leistungen, die von acht ver­schie­de­nen Stellen admi­nis­triert wer­den (s. Abbildung 9). Dabei sind ins­ge­samt min­des­tens vier ver­schie­de­ne Einkommensbegriffe und drei ver­schie­de­ne Begriffe der häus­li­chen Lebensgemeinschaft anzu­le­gen. Inwieweit bei den kom­mu­na­len Stellen für die Beitragsfreistellung eine eige­ne Berechnung des Einkommens erfol­gen muss, hängt von der Regelung der Kommune ab.

Aufgrund der Verknüpfung der Leistungen bedarf es einer umfang­rei­chen Einzelfallberechnung in den ein­zel­nen Behörden.

Diese schon tra­gisch anmu­ten­de Komplexität ist nur ein Beispiel.

Die Komplexität muss reduziert werden

Wer ein sol­ches System sei­nen Kritikern gegen­über ver­tei­di­gen möch­te (selbst Minister Heil, SPD), dürf­te eini­ger­ma­ßen über­for­dert sein. Wir sehen das an der nicht ver­stum­men wol­len­den Kritik am Bürgergeld. Die Addition ver­schie­dens­ter Sozialleistungen für Betroffene lässt sich klein- und eben­so groß­rech­nen. Transparenz wür­de auch hier helfen.

Wenn von ein­zel­nen Politikern (aus CDU/​FDP u.a.) geschimpft wird, dass ein Dachdecker ein­kom­mens­mä­ßig sum­ma sum­ma­rum unter den Bezügen eines arbeits­lo­sen Familienvaters läge, möch­te ich die­je­ni­gen sehen, die erfolg­reich für oder gegen das Bürgergeld argumentieren. 

Wer blickt noch durch?

An einer Stelle habe ich gele­sen, dass es gut wäre, wenn die Leistungen von einer Stelle koor­di­niert wür­den. Das könn­te man so inter­pre­tie­ren, dass nun noch eine Stelle hin­zu­kä­me, die sich dar­um küm­mern soll­te. Für mich klingt das so, als wür­de man nicht weni­ger, son­dern eher mehr Bürokratie ein­füh­ren wol­len. Ich mag mir nicht vor­stel­len, wie die­ses Tohuwabohu aus Gesetzen und Vorschriften, die in die­sen Paketen ver­wo­ben sind, refor­miert wer­den könnte. 

Dass es ande­rer­seits Menschen gibt, die aus poli­ti­scher Überzeugung sol­che Fehlentwicklungen zu nut­zen ver­su­chen, um den Sozialstaat zu schlei­fen, scheint mir naheliegend.

Wenn ich König wäre, wür­de ich alle Reformen auf mor­gen ver­schie­ben.

Oliver Cromwell (1599–1658)

Generell fällt mir der schee­le Blick auf, der die Bereitschaft zu Veränderungen (Reformen) bremst. Man gönnt sich gegen­sei­tig nichts. Die Jungen schimp­fen über die Alten und umge­kehrt. Da geht es um die einst sicher geglaub­ten Renten. Diese Hoffnung droht sich auf­grund der Demografie zu pul­ve­ri­sie­ren. Ich glau­be, dass die man­geln­de Reformfreudigkeit der Deutschen vor allem damit zu tun hat, dass die­se Gesellschaft zuse­hends altert. Ältere Menschen nei­gen zur Besitzstandswahrung. In der Mehrheit mögen sie kei­ne Veränderungen.

Umgekehrt ist es für mich ein Buch mit sie­ben Siegeln. Wie soll sich die erkenn­ba­re Neigung der jün­ge­ren Generationen zu weni­ger Arbeit mit dem in Einklang brin­gen las­sen, was in die­ser Phase des wirt­schaft­li­chen Absturzes, der kei­ne kon­junk­tu­rel­len, son­dern struk­tu­rel­le Ursachen hat, drin­gend nötig wäre? 

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7 Gedanken zu „Reformbereitschaft nicht nur im Bereich der Sozialleistungen“

  1. @Horst, ich habe auch die o.g. Lanz-Sendung gese­hen. Ich fand Steinbrück sehr kom­pe­tent und dach­te im Vergleich zu C. Lindner, man, was haben wir denn für Dilettanten als Führungspersonal. (Fach-) Minister zu sein ist halt doch eine ganz ande­re Nummer, als eine Partei zu füh­ren. Uns so sym­pa­thisch mir auch Habeck ist, aber mit Fachkompetenz ist mir Hr. Habeck bis­her noch nicht son­der­lich aufgefallen.

    Ich glau­be mit der Ampel hat sich das Dilemma beson­ders gezeigt, das Minister nach Parteienproporz bestellt wer­den und Fachkompetenz dabei nicht vor­ran­gig zählt. Wobei, eine Expertenregierung fän­de ich noch schlim­mer, wenn da jede Fähigkeit und Eignung feh­len wür­de, um eine gro­ße Adminstration zu guten Ergebnissen zu führen. 

    Eine nicht ein­fach zu lösen­de Herausforderung. Ja, eben. Ein Dilemma,- in der man sich für die bes­te der schlech­tes­ten Lösung ent­schei­den muss. 

    Antworten
  2. Das Beispiel ist beein­dru­ckend, ja. Da ist übri­gens kein Bürgergeld betei­ligt – nur weil das stän­dig als „Hauptproblem” kol­por­tiert wird!
    Die kri­ti­sier­te Komplexität ergibt sich aller­dings dar­aus, dass unse­re Sozialsysteme auf die Situation des INDIVIDUUMs aus­ge­rich­tet sind, nicht pau­schal auf „Familien”. Im Beispiel hat der arbeits­lo­se Vater Anspruch auf Arbeitslosengeld (ALG1) bzw. Umschulungsfinanzierung, sowie als Hauptmieter Wohngeld (das von der Miethöhe + Einkommen abhängt). Die pfle­ge­be­dürf­ti­ge Mutter hat Anspruch auf Pflegegeld und Sozialhilfe. Das Kind bekommt Unterhaltsvorschuss, Kindergeld/​Zuschlag und ist Grund für ent­spre­chen­de Freibeträge beim Finanzamt.
    Dass schließ­lich alle kran­ken- und pfle­ge­ver­si­chert sind, ist ja nur „nor­mal”.

    Der Ansatz der Grünen, die Komplexität durch eine Kindersicherung zu erset­zen, war ja sehr sinn­voll, ist aber nicht durch­ge­drun­gen, auch weil er eine neue Behörde erfor­dert hät­te bzw. deut­lich teu­rer gewor­den wäre – jeden­falls erin­ne­re ich das so.

    Besonders absurd wir­ken die ver­schie­de­nen „Einkommensbegriffe”. Bin aber fast sicher, dass die­se durch unter­schied­li­che Anrechnungen der Leistungen der ande­ren Behörden entstehen. 

    Trotz all der vie­len Leistungen, ins­be­son­de­re für Kinder, wird viel­fach über das „Armutsrisiko” geklagt, das es bedeu­tet, Kinder groß zu zie­hen. (Hier mal eine Liste der Leisungen für Familien mit Kindern). Es wird heu­te offen­bar als unge­recht emp­fun­den, nicht so viel kon­su­mie­ren zu kön­nen wie Kinderlose (die immer­hin mehr Steuern und Pflegeversicherungsbeiträge zahlen).

    Ja, es ist grau­en­haft kom­plex! Und jede „Vereinfachung” wäre eine Pauschalisierung, die Verlierer gebiert.
    Wenn ich anschaue, was in Frankreich pas­siert, bin ich glatt nicht mehr ganz so kri­tisch gegen­über einer Schuldenbremse. Reformen zu Gunsten von Investitionen müs­sen aber sein! 

    Antworten
  3. Habe mal in das Gutachten rein gese­hen. Da sind rich­tig vie­le ganz tol­le und sinn­vol­le Vorschläge zur Entbürokratisierung und vor allem Digitalisierung der Sozialleistungen:

    „Es braucht ein auf ver­bind­li­chen Standards und Architekturvorgaben basie­ren­des digi­ta­les Plattform-Ökosystem der Sozialleistungsverwaltung.
    Standardisierte Schnittstellen und fach­spe­zi­fi­sche Basiskomponenten, wie bspw. eine auto
    mati­sier­te Einkommensprüfung, soll­ten die Grundlage für eine wett­be­werbs­of­fe­ne und inter­ope­ra­ble IT-Landschaft sein. Bestehende Zentralkomponenten der föde­ra­len E‑Government-Infrastruktur wie BundID und FIT-Connect bil­den den fach­neu­tra­len Unterbau und den Zugang zum erwei­ter­ten staat­li­chen Plattform-Ökosystem. Anders als die dezen­tra­len Fachverfahren muss der digi­ta­le Kontakt zwi­schen Leistungsberechtigten und Verwaltung gebün­delt werden.
    Ein föde­ra­ler digi­ta­ler One-Stop-Shop für Sozialleistungen erleich­tert nicht nur die Inanspruchnahme, son­dern setzt auch den tech­ni­schen und orga­ni­sa­to­ri­schen Rahmen zum Auf- und Ausbau des Ökosystems.”

    Das gan­ze Gewirre mit vie­ler­lei Formularen und der amt­li­chen Beschäftigung mit der Prüfung und Einholung der Bescheinigungen der Lesitungen ande­rer Behörden wür­de ent­fal­len! Das ist im Grunde schon lan­ge tech­nisch mög­lich, aber ver­mut­lich hat sich kaum je ein Politiker oder Verwaltungsmensch so rich­tig dafür interessiert. 

    Anfang der 90ger, in mei­ner Umschulung zur EDV-Fachkraft, lern­te ich, was „objekt­ori­en­tier­te Programmierung” ist. Und Mitte der 90ger lern­te ich das Web ken­nen und frag­te mich: Warum dau­ern Baugenehmigungen noch immer solan­ge? Man könn­te doch ein „Objekt” als Webprojekt errich­ten, pro Bauantrag. Da könn­ten alle Unterlagen drin sein und anstatt dass jede Behörde ewig braucht und dann erst an die nächs­te wei­ter­reicht, könn­ten sie alle dazu einen auto­ri­sier­ten Zugang haben, ihre Prüfungen machen und ihre Genehmigungen einspeichern. 

    Wann ist sowas erst­ma­lig gemacht wor­den? Vermutlich in der Art bis heu­te nicht, aber Habeck hat immer­hin das Genehmigungsverfahren für Windräder auf 6 Monate gekürzt – indem die Behörden nicht mehr nach­ein­an­der, son­dern zugleich dran arbei­ten durften. 

    Es ist ein Elend, wie schlep­pend und trä­ge tech­ni­sche Neuerungen hier­zu­lan­de ein­ge­setzt wer­den! Sehr viel Unmut wür­de gar­nicht erst ent­ste­hen, wenn es anders wäre! 

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