Horst Schulte

Nostalgische Vergesslichkeit

Erinnerungen können täuschen.

4 Min.

Seit meinen Kindertagen ist viel Zeit vergangen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Erinnerungen verschwimmen, ja manchmal sogar zweifelhaft sein können. Manchmal weiß ich beim Erzählen nicht genau, ob das eine oder andere Detail der Realität entspricht. Hauptsache, es ist unterhaltend und es wirkt nicht vollkommen übertrieben. Ist das nicht tragisch? Aber — schließlich bin ich kein Politiker. Denen nimmt man Erinnerungslücken schnell übel.

Die schönen Erinnerungen überwiegen hoffentlich nicht nur deshalb, weil die verflossene Zeit so schrecklich weit entfernt ist. Diese Rechnung könnte man anstellen.

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Drei Freunde sollt ihr sein.

Ich war ein zurückhaltender, stiller Junge. Das war eine Frage des Selbstvertrauens, das mir nun wirklich nicht in die Wiege gelegt wurde. Ich wurde in den ersten Schuljahren von einigen „Klassenkameraden“ drangsaliert, die den gleichen Nachhauseweg hatten wie ich. Heute würde ich vor allem diese erste Phase meiner Schulzeit als nicht die glücklichste beschreiben. Ich hatte damals häufig mit Magenkrämpfen zu tun. Die Kinderärztin diagnostizierte eine Magenschleimhautentzündung. Vermutlich war das eine direkte Folge der damaligen Erlebnisse.

Auf dem Nachhauseweg wurde ich von den anderen Kindern drangsaliert. Sie beschädigten mein Fahrrad, in einem Fall wurde es mit einer Art Ölfarbe neu lackiert. Ich habe mich kaum gewehrt, obwohl ich klar auf der Seite meines Fahrrades stand.

Heute weiß ich, meine Angst war für die anderen ein Ansporn, das fortzuführen.

Meine Mutter war das eines Tages leid. Sie vereinbarte ein Treffen mit meiner Klassenlehrerin. Ab diesem Tag hatte ich einen Vorsprung von einer Viertelstunde, die anderen mussten warten. Diese Vereinbarung genoss allerdings keine große Popularität. Auf Dauer war das also keine Lösung. Die Maßnahme beförderte weiteren Ärger.

Irgendwie haben wir uns im Lauf der Jahre zusammen geruckelt. Ob es an meinem Verhalten gelegen hat oder an der Einsicht meiner »Peiniger« kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich noch an eine Konfrontation, die kurz vor unserem Wegzug stattfand. Zum Glück hatte ich einen unbestechlichen Verbündeten. Das war ein Boxer namens Arco. Der sorgte dafür, dass die Angreifer sich rasch verzogen haben.

Jahre später haben wir uns immer wieder mal im Städtchen getroffen. Komischerweise spielte meine spezielle Erfahrung bei unseren nur kurzen Unterhaltungen überhaupt keine Rolle. Wäre unser Umgang von Außenstehenden beobachtet worden, hätten sie vermutlich keine negativen Vibes gespürt. Auch dann nicht, wenn man nur auf mich geachtet hätte.

Es gab gemeinsame Erinnerungen, die positiv waren und die wohl durch nostalgische Gefühle verstärkt wurden. Wir haben gemeinsam Hütten gebaut, sind im Winter Schlitten gefahren (im wahren Sinne der Worte, es gab in diesen Jahren viel Schnee). Was Freunde halt so zusammen tun.

Ich erzähle das, weil ich zuletzt immer wieder davon gehört habe, dass Mobbing-Attacken weiter zunehmen.

Welche Ursachen das haben könnte, vermag ich nicht zu beurteilen. An allem kann das Internet vermutlich nicht schuld sein. Dennoch neige ich dazu, die Zunahme dieser Abart von Menschenfeindlichkeit auch damit zu begründen, dass die Kinder heutzutage zu viel Zeit an, genauer gesagt, mit ihren Endgeräten verbringen. Gestern hörte ich, dass in bestimmten Altersklassen die Nutzungszeit am Wochenende bis zu vier Stunden täglich betragen würde. Ich bin 71 und sitze entschieden zu viel am Rechner. Aber bei mir ist auch nichts mehr zu verderben.

Im Schnitt verbringen Kinder und Jugendliche demnach 157 Minuten pro Tag in sozialen Medien. Das liege in etwa auf dem Niveau der beiden Vorjahre, sei aber rund eine halbe Stunde mehr als vor der Pandemie.

Quelle

Infos zum Thema Internet-Nutzung bei Kindern und Jugendlichen:

  1. Hirnforscher plädiert für Handy-Verbot: „Smartphones schaden schwachen Schülern am meisten“
  2. Social Media: Immer mehr Kinder und Jugendliche sind mediensüchtig

Horst Schulte

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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Privat

Kindheit, Mobbing

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4 Kommentare anzeigen

4 Gedanken zu „Nostalgische Vergesslichkeit“

  1. Ich habe gestern oder vorgestern auch Artikel zu diesem Thema gelesen. Eigentlich fällt mir zu diesen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen nur zweierlei ein:

    Indem man Kindern und Jugendlichen einen essenziellen Teil der heutigen Welt verbotsweise vorenthält, entzieht man ihnen schlicht einen Teil der Erfahrungswelt, in die sie als Erwachsene später um so heftiger hineingestoßen werden. Auch Alkoholismus ist übrigens kein Phänomen, dem man mit Verboten beikommen kann. Die genannten Missstände verschwinden nicht, nur weil man versucht, Kinder und Jugendliche verbotsweise aus der Rechnung zu entfernen.

    All diese so breit und alarmistisch in die Öffentlichkeit gebrachten Erkenntnisse und Studien sind am Ende selbst Teil der gewaltigen Aufmerksamkeitsökonomie, die vorgeblich in der Kritik steht.

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  2. Klare Regeln, die auch eingehalten werden, weil die Eltern darauf achten, sollen existieren und normal sein. Aber das ist schon zu beschwerlich für viele. So lassen wir die Kinder allein, lassen alles schleifen, was wir an eigenen Erfahrungen gemacht haben und wundern uns über Pisa und viele andere negative Entwicklungen, die irgendeinen Ursprung haben werden. Wenn es nicht das Internet ist und der viel zu freizügige Kontakt mit ihm, dann werden wohl am Ende wir alle es sein, die unsere Kinder verderben bzw. die die Verantwortung dafür zu tragen haben.

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  3. Ich wäre froh gewesen, wenn die Mitglieder meiner einstigen Kinderbande (1.Hälfte 60er) weniger Freilauf gehabt hätten – obwohl, das stimmt auch nicht wirklich, denn es bestand eine Abhängigkeit: Sie waren die einzigen potenziellen Spielgefährten und alleine machte die Zeit im Hof (Wiese, Sandkasten, Büsche etc.) nicht lange Spass. Man drückte also die Klingeln „Kommst du runter?“ und hoffte auf friedliches Miteinander. Das gab es ja dann auch, aber die Horrorerlebnisse gab es eben auch – und nicht gerade selten!
    Als kleinste, jüngste und vor allem „Zugezogene mit fremdem Dialekt“ wurde mir meine Stellung als Letzte in der Hackordnung überdeutlich gemacht – vor alle, wenn sie zu mehreren waren! Es ging damals nicht ums beraubt werden (niemand hatte groß was!), sondern Spott, Beleidigungen, zum „Dienstboten“ und zu verhassten Spielen gezwungen werden. Auch wurde ich umzingelt und von mehreren Jungs genital betastet – von den Mädchen butlerisiert und häufig ausgegrenzt. Als mein Roller mal in einen Baum gehängt wurde, kontakteten meine Eltern die Tätereltern – was alles nur schlimmer machte, denn schlißelich war ich in der Regel mit den Mitkindern allein und ihrer Rache ausgesetzt.

    Mein Vater meinte zu alledem nur: „Wehr dich doch, schlag zurück!“ – völlig außerhalb meiner Möglichkeiten! (Mutter konnte eh nichts ändern).
    Von den Eltern gab es also keinerlei Hilfe und die einzige Möglichkeit des Entkommens, einfach zuhause zu bleiben, war ja keine Dauerlösung.
    Alles in allem war meine Kindheit ( so zwischen 6 und 11) die schlimmste Zeit meines Lebens – dabei aber recht „normal“, von außen gesehen. Es waren alles normale Familien, kein „sozialer Brennpunkt“, viele Beamte und Angestellte im öffentl. Dienst. Kinder durften unbeaufsichtigt raus, wenn die Hausaufgaben gemacht waren – so bis zum Einbruch der Dunkelheit, auch im Winter. Gegenseitige Besuche in den Wohnungen waren unüblich.

    Meine geistige Rettung war die Schule (da war ich gut), die Pubertät und die 68-er-Kulturrevulotion, die uns auch in der 10.Klasse erreichte.
    Eine erwähnenswerte Folge hatte diese Kinderzeit immerhin: Nichts, was danach kam, konnte mir psychisch so viel anhaben, denn „Allein, verzweifelt und verlassen sein“ hatte ich hinter mir!

    Über Kinder denke ich: Sie sind grausam und unzivilisiert, leben das aus, wo sie können (offline oder online). Es bedarf der Erziehung, um aus den kleinen Monstern verantwortungs- und rücksichtsvolle Erwachsene zu machen. So einfach!

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  4. Freilauf hatten wir hier (auf dem Land) wirklich genug und wir haben ihn weidlich ausgenutzt. Es gab so viele schöne Erlebnisse. Leider halt auch weniger Schöne.

    Mit einem Nachbarsjungen verbindet mich bis heute eine tiefe Freundschaft. Auch wir haben uns als Kinder manchmal gefetzt. Genauso schnell waren wir wieder versöhnt. Die positiven Erinnerungen überwiegen wahrscheinlich bei den meisten Menschen. Ich bin mit meiner Frau einig darüber, dass wir unseren Eltern wahnsinnig dankbar sein müssen, dass sie uns diese Freiräume gelassen haben. Und noch viel mehr.

    Sexuelle Übergriffe unter uns Kindern gab es auch bei uns. Mir ist eine Begebenheit immer noch in Erinnerung. Ich glaube, das vergisst man nicht.

    Mein Vater hatte immer den Rat parat, dass ich mir ein dickeres Fell wachsen lassen solle. Das habe ich bis heute nicht. Und gewehrt (in Maßen) habe ich mich nur, wenn ich vorher wirklich krass provoziert worden bin. Ich habe mich nie an einer Schlägerei beteiligt. Auch nicht als Halbwüchsiger oder als Erwachsener. Solchen Dingen bin ich immer aus dem Weg gegangen.

    Meine Eltern haben allerdings interveniert, wenn es ganz arg wurde. Es gibt eine Anekdote, die ich auch nie vergesse. Mein Vater war wegen des Übergriffs eines Nachbarjungen bei seinen Eltern. Vielleicht schreibe ich darüber auch mal eine kleine Geschichte. Das war lustig (jedenfalls mit dem Abstand von so vielen Jahrzehnten).

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