Nostalgische Vergesslichkeit

Erin­ne­run­gen kön­nen täuschen.

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Seit mei­nen Kin­der­ta­gen ist viel Zeit ver­gan­gen. Dazu gehört die Erkennt­nis, dass die Erin­ne­run­gen ver­schwim­men, ja manch­mal sogar zwei­fel­haft sein kön­nen. Manch­mal weiß ich beim Erzäh­len nicht genau, ob das eine oder ande­re Detail der Rea­li­tät ent­spricht. Haupt­sa­che, es ist unter­hal­tend und es wirkt nicht voll­kom­men über­trie­ben. Ist das nicht tra­gisch? Aber – schließ­lich bin ich kein Poli­ti­ker. Denen nimmt man Erin­ne­rungs­lü­cken schnell übel.

Die schö­nen Erin­ne­run­gen über­wie­gen hof­fent­lich nicht nur des­halb, weil die ver­flos­se­ne Zeit so schreck­lich weit ent­fernt ist. Die­se Rech­nung könn­te man anstellen.

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Drei Freun­de sollt ihr sein.

Ich war ein zurück­hal­ten­der, stil­ler Jun­ge. Das war eine Fra­ge des Selbst­ver­trau­ens, das mir nun wirk­lich nicht in die Wie­ge gelegt wur­de. Ich wur­de in den ers­ten Schul­jah­ren von eini­gen „Klas­sen­ka­me­ra­den“ drang­sa­liert, die den glei­chen Nach­hau­se­weg hat­ten wie ich. Heu­te wür­de ich vor allem die­se ers­te Pha­se mei­ner Schul­zeit als nicht die glück­lichs­te beschrei­ben. Ich hat­te damals häu­fig mit Magen­krämp­fen zu tun. Die Kin­der­ärz­tin dia­gnos­ti­zier­te eine Magen­schleim­haut­ent­zün­dung. Ver­mut­lich war das eine direk­te Fol­ge der dama­li­gen Erlebnisse.

Auf dem Nach­hau­se­weg wur­de ich von den ande­ren Kin­dern drang­sa­liert. Sie beschä­dig­ten mein Fahr­rad, in einem Fall wur­de es mit einer Art Ölfar­be neu lackiert. Ich habe mich kaum gewehrt, obwohl ich klar auf der Sei­te mei­nes Fahr­ra­des stand. 

Heu­te weiß ich, mei­ne Angst war für die ande­ren ein Ansporn, das fortzuführen.

Mei­ne Mut­ter war das eines Tages leid. Sie ver­ein­bar­te ein Tref­fen mit mei­ner Klas­sen­leh­re­rin. Ab die­sem Tag hat­te ich einen Vor­sprung von einer Vier­tel­stun­de, die ande­ren muss­ten war­ten. Die­se Ver­ein­ba­rung genoss aller­dings kei­ne gro­ße Popu­la­ri­tät. Auf Dau­er war das also kei­ne Lösung. Die Maß­nah­me beför­der­te wei­te­ren Ärger.

Irgend­wie haben wir uns im Lauf der Jah­re zusam­men geru­ckelt. Ob es an mei­nem Ver­hal­ten gele­gen hat oder an der Ein­sicht mei­ner »Pei­ni­ger« kann ich nicht sagen. Ich erin­ne­re mich noch an eine Kon­fron­ta­ti­on, die kurz vor unse­rem Weg­zug statt­fand. Zum Glück hat­te ich einen unbe­stech­li­chen Ver­bün­de­ten. Das war ein Boxer namens Arco. Der sorg­te dafür, dass die Angrei­fer sich rasch ver­zo­gen haben.

Jah­re spä­ter haben wir uns immer wie­der mal im Städt­chen getrof­fen. Komi­scher­wei­se spiel­te mei­ne spe­zi­el­le Erfah­rung bei unse­ren nur kur­zen Unter­hal­tun­gen über­haupt kei­ne Rol­le. Wäre unser Umgang von Außen­ste­hen­den beob­ach­tet wor­den, hät­ten sie ver­mut­lich kei­ne nega­ti­ven Vibes gespürt. Auch dann nicht, wenn man nur auf mich geach­tet hätte.

Es gab gemein­sa­me Erin­ne­run­gen, die posi­tiv waren und die wohl durch nost­al­gi­sche Gefüh­le ver­stärkt wur­den. Wir haben gemein­sam Hüt­ten gebaut, sind im Win­ter Schlit­ten gefah­ren (im wah­ren Sin­ne der Wor­te, es gab in die­sen Jah­ren viel Schnee). Was Freun­de halt so zusam­men tun.

Ich erzäh­le das, weil ich zuletzt immer wie­der davon gehört habe, dass Mob­bing-Atta­cken wei­ter zunehmen. 

Wel­che Ursa­chen das haben könn­te, ver­mag ich nicht zu beur­tei­len. An allem kann das Inter­net ver­mut­lich nicht schuld sein. Den­noch nei­ge ich dazu, die Zunah­me die­ser Abart von Men­schen­feind­lich­keit auch damit zu begrün­den, dass die Kin­der heut­zu­ta­ge zu viel Zeit an, genau­er gesagt, mit ihren End­ge­rä­ten ver­brin­gen. Ges­tern hör­te ich, dass in bestimm­ten Alters­klas­sen die Nut­zungs­zeit am Wochen­en­de bis zu vier Stun­den täg­lich betra­gen wür­de. Ich bin 71 und sit­ze ent­schie­den zu viel am Rech­ner. Aber bei mir ist auch nichts mehr zu verderben.

Im Schnitt ver­brin­gen Kin­der und Jugend­li­che dem­nach 157 Minu­ten pro Tag in sozia­len Medi­en. Das lie­ge in etwa auf dem Niveau der bei­den Vor­jah­re, sei aber rund eine hal­be Stun­de mehr als vor der Pandemie.

Quel­le

Infos zum The­ma Inter­net-Nut­zung bei Kin­dern und Jugendlichen:

  1. Hirn­for­scher plä­diert für Han­dy-Ver­bot: „Smart­phones scha­den schwa­chen Schü­lern am meisten“
  2. Social Media: Immer mehr Kin­der und Jugend­li­che sind mediensüchtig

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: Kindheit

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4 Gedanken zu „Nostalgische Vergesslichkeit“

  1. Ich habe ges­tern oder vor­ges­tern auch Arti­kel zu die­sem The­ma gele­sen. Eigent­lich fällt mir zu die­sen Erkennt­nis­sen und Schluss­fol­ge­run­gen nur zwei­er­lei ein:

    Indem man Kin­dern und Jugend­li­chen einen essen­zi­el­len Teil der heu­ti­gen Welt ver­bots­wei­se vor­ent­hält, ent­zieht man ihnen schlicht einen Teil der Erfah­rungs­welt, in die sie als Erwach­se­ne spä­ter um so hef­ti­ger hin­ein­ge­sto­ßen wer­den. Auch Alko­ho­lis­mus ist übri­gens kein Phä­no­men, dem man mit Ver­bo­ten bei­kom­men kann. Die genann­ten Miss­stän­de ver­schwin­den nicht, nur weil man ver­sucht, Kin­der und Jugend­li­che ver­bots­wei­se aus der Rech­nung zu entfernen.

    All die­se so breit und alar­mis­tisch in die Öffent­lich­keit gebrach­ten Erkennt­nis­se und Stu­di­en sind am Ende selbst Teil der gewal­ti­gen Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie, die vor­geb­lich in der Kri­tik steht.

  2. Ich wäre froh gewe­sen, wenn die Mit­glie­der mei­ner eins­ti­gen Kin­der­ban­de (1.Hälfte 60er) weni­ger Frei­lauf gehabt hät­ten – obwohl, das stimmt auch nicht wirk­lich, denn es bestand eine Abhän­gig­keit: Sie waren die ein­zi­gen poten­zi­el­len Spiel­ge­fähr­ten und allei­ne mach­te die Zeit im Hof (Wie­se, Sand­kas­ten, Büsche etc.) nicht lan­ge Spass. Man drück­te also die Klin­geln „Kommst du run­ter?“ und hoff­te auf fried­li­ches Mit­ein­an­der. Das gab es ja dann auch, aber die Hor­ror­er­leb­nis­se gab es eben auch – und nicht gera­de selten!
    Als kleins­te, jüngs­te und vor allem „Zuge­zo­ge­ne mit frem­dem Dia­lekt“ wur­de mir mei­ne Stel­lung als Letz­te in der Hack­ord­nung über­deut­lich gemacht – vor alle, wenn sie zu meh­re­ren waren! Es ging damals nicht ums beraubt wer­den (nie­mand hat­te groß was!), son­dern Spott, Belei­di­gun­gen, zum „Dienst­bo­ten“ und zu ver­hass­ten Spie­len gezwun­gen wer­den. Auch wur­de ich umzin­gelt und von meh­re­ren Jungs geni­tal betas­tet – von den Mäd­chen but­le­ri­siert und häu­fig aus­ge­grenzt. Als mein Rol­ler mal in einen Baum gehängt wur­de, kon­tak­te­ten mei­ne Eltern die Täter­el­tern – was alles nur schlim­mer mach­te, denn schli­ße­lich war ich in der Regel mit den Mit­kin­dern allein und ihrer Rache ausgesetzt. 

    Mein Vater mein­te zu alle­dem nur: „Wehr dich doch, schlag zurück!“ – völ­lig außer­halb mei­ner Mög­lich­kei­ten! (Mut­ter konn­te eh nichts ändern).
    Von den Eltern gab es also kei­ner­lei Hil­fe und die ein­zi­ge Mög­lich­keit des Ent­kom­mens, ein­fach zuhau­se zu blei­ben, war ja kei­ne Dauerlösung.
    Alles in allem war mei­ne Kind­heit ( so zwi­schen 6 und 11) die schlimms­te Zeit mei­nes Lebens – dabei aber recht „nor­mal“, von außen gese­hen. Es waren alles nor­ma­le Fami­li­en, kein „sozia­ler Brenn­punkt“, vie­le Beam­te und Ange­stell­te im öffentl. Dienst. Kin­der durf­ten unbe­auf­sich­tigt raus, wenn die Haus­auf­ga­ben gemacht waren – so bis zum Ein­bruch der Dun­kel­heit, auch im Win­ter. Gegen­sei­ti­ge Besu­che in den Woh­nun­gen waren unüblich. 

    Mei­ne geis­ti­ge Ret­tung war die Schu­le (da war ich gut), die Puber­tät und die 68-er-Kul­tur­re­vu­lo­tion, die uns auch in der 10.Klasse erreichte.
    Eine erwäh­nens­wer­te Fol­ge hat­te die­se Kin­der­zeit immer­hin: Nichts, was danach kam, konn­te mir psy­chisch so viel anha­ben, denn „Allein, ver­zwei­felt und ver­las­sen sein“ hat­te ich hin­ter mir! 

    Über Kin­der den­ke ich: Sie sind grau­sam und unzi­vi­li­siert, leben das aus, wo sie kön­nen (off­line oder online). Es bedarf der Erzie­hung, um aus den klei­nen Mons­tern ver­ant­wor­tungs- und rück­sichts­vol­le Erwach­se­ne zu machen. So einfach!

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