

Wenn man ganz genau hinsieht – wirklich ganz genau –, dann kann man ihn erkennen: links, im Spiel aus Licht und jugendlicher Unschuld, den zarten Ansatz eines Schnäuzers. Kein Prachtstück, gewiss nicht, eher ein Flüstern von Männlichkeit, das sich wie ein heimlicher Wunsch auf der Oberlippe niedergelassen hatte. Der Rest? Nun ja, die Ähnlichkeit mit meinem heutigen Selbst ist… sagen wir mal: begrenzt. Und doch wohnt diesem alten Foto etwas inne, das mich kaum loslässt.
Damals, 1974, standen wir auf dem Scheitelpunkt unserer Jugend, die Köpfe voller Flausen und Freiheit. Estepona – ein kleines andalusisches Dorf, noch unberührt vom Glanz Marbellas – war unser Sehnsuchtsort. Zugegeben: Wir ahnten das bei unserer Abfahrt aus Bedburg nicht. Vier Wochen im Mai, Sonne auf der Haut, Salzwasser in den Haaren und Freundschaft in Reinform. Unsere Jugendfeuerwehr – eine reine Männerbastion damals – feierte den Abschluss dieser wunderbaren sechs Jahre mit einer Reise, die sich wie ein Versprechen anfühlte: Das Leben liegt vor dir. Greif zu.
Ich erinnere mich an alles. An das erste Mal Fliegen – das Kribbeln im Bauch, das ich damals eher meiner Verliebtheit zuschrieb, aber vielleicht war es auch schlicht Höhenangst. An die Briefe, seitenweise verliebt und verschmiert von Sonnencreme, die ich meiner damaligen Freundin schrieb – meiner heutigen Frau. An unsere bisherige noch recht kurze gemeinsame Zeit, die Schwärmereien und an die Momente, in denen ich (damals 18) ahnte: So fühlt sich Glück an.
Einige Jahre später wagten einige von uns es noch einmal. Zum gleichen Ort. Aber es war doch nicht dasselbe. Die Erwartung war ein Klotz am Bein. Nichts konnte diesen ersten Urlaub nachfühlen. Vielleicht ist das das Wesen der Erinnerung: Sie leuchtet am hellsten, wenn man sie nicht zu oft ins Licht zerrt.
Heute, gute fünfzig Jahre später, gehe ich öfter zum Friseur. Ausgerechnet jetzt, im Rentenalter. Früher, als das Rasieren noch tägliches Ritual war – fast schon eine Pflicht –, konnte ich mich mit Friseuren nicht anfreunden. Der Kontrollverlust beim Haareschneiden, das Ausgeliefertsein! Das erinnert mich an Fynn, meinen Großneffen. Er hat richtig lange Haare und mag keine Friseure.
Marlon Brando fragte in der Pate I seinen Friseur: „Wie lange schneidest du mir die Haare?“ Über 40 Jahre war dessen Antwort. Haare schneiden ist Vertrauenssache, auch für Mafia-Boss. In meinem Fall sind es sogar 10 Jahre mehr. Ich sage das mit einem gewissen Stolz – und einem Augenzwinkern. Wer kann das schon von sich behaupten, fast sein Leben lang bei einem Friseur Kunde gewesen zu sein?
Ja, der Schnäuzer kam lange wirklich zur Blüte. Und ja, auch der Dreitagebart war mehr Mode als Überzeugung. Aber das Gesicht, das mich da auf dem alten Bild anschaut, trägt etwas in sich, das geblieben ist. Eine Ahnung von Aufbruch, eine stille Freude am Leben. Und auch ein bisschen Wehmut.
Denn wenn ich an Estepona denke, sehe ich nicht nur uns lachende Jungen, sondern auch die bittertraurige Leerstelle jener, die heute fehlen. Manche sind zu früh gegangen, einer hat sich in Dinge verstrickt, die damals niemand hätte vorausahnen können. Manchmal blättere ich durch alte Fotos wie durch ein Buch, dessen Ausgang ich längst kenne. Diese Art von Wiederholung verärgert mich nicht und ich kann nicht aufhören, darin zu »lesen«.
Und so rasiere ich mich heute nicht mehr täglich. Ich müsste zu häufig in den Spiegel schauen. Dort sehe ich den Mann, der ich geworden bin. Ein kleines Lächeln vielleicht. Und manchmal, nur manchmal, denke ich, auf diesen Schnäuzer würde ich verzichten, aber nicht auf meine Erinnerungen.
Schöner Beitrag, Horst. Meine Frau, die gerade am Computer vorbei kam und dein Jugendbild sah, fragte mich: Bist du das? Und in der Tat, wir sehen uns in diesen Jugendtagen wirklich sehr ähnlich. Nur, ich hatte nicht so lange Haare (haben dürfen).
Tja,- und das Wesen der Erinnerungen, was du oben angedeutet hast, beschäftigt mich in den letzten Wochen sehr. Wieviel persönliche brauchen wir davon, und wenn,- welche und wozu?