Grüner Zorn und ein fliegendes Gebiss

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Horst Schulte

Mein Vater schickte mich in den Garten, weil meine Langeweile und ich nicht wussten, wo wir uns lassen sollten. Es war gegen Ende der 1950-er Jahre. Ich war vielleicht vier, fünf Jahre alt. Die Welt war groß, aber mein Aktionsradius klein. Ich hatte in einem Schuppen einen Eimer knallgrüner Farbe entdeckt und einen für meine Größe gewaltigen Pinsel. Ich machte mich unverzüglich daran, die Wände an unserem Haus zu bepinseln. Ich war also gewissermaßen qua Neigung der erste Graffiti-Künstler oder Sprayer seiner Zeit. Papa fand das nicht gut. Aber er hatte eine Idee.

Ich sollte statt unserer Hauswand doch lieber die Rankhilfen unserer Tomaten grün anstreichen. „Beschäftigungstherapie“ oder so, hätte man das heute genannt. Er wies in Richtung Gemüsebeet in einem der beiden riesigen Gärten: „Mach das ordentlich!“

Motiviert war ich nicht. Null. Ich war der festen Überzeugung, dass das ein Job war, der allenfalls an Strafarbeit grenzte – und was konnten bitte die Tomatenpflanzen dafür? So kam es, dass nicht nur die Rankhilfen, sondern auch die zarten Pflanzen selbst ein gutes Stück Farbe abbekamen. Künstlerische Freiheit, quasi.

Doch ich war nicht allein. Zwei der Gehilfen meines Vaters werkelten in der Nähe. Und einer davon, Anton, hatte mich im Blick. Irgendwann platzte ihm der Kragen: „Konzentrier’ dich mal auf die Rankhilfen und mach die unschuldigen Pflanzen nicht kaputt!“

„Hmmm“, dachte ich. „Jetzt will der mir auch noch sagen, wie ich meine Arbeit zu machen habe?“ Ich malte weiter. Rankhilfen, Tomaten – alles wurde grün. Wär’ ja noch schöner.

Anton kam näher, seine Stimme wurde schärfer: „Hörst du jetzt, was ich sage? Wenn du nicht hören willst, dann packe den Kram zusammen und geh!“ Das war der Moment, an dem mein kindlicher Zorn explodierte.

Ich tauchte den Pinsel noch einmal richtig tief in die Farbe und – zack – warf ihn ihm an den Kopf. Der Treffer saß. Antons Gebiss, von einem satten Grünton veredelt, flog durch die Luft. Ein Bild für die Götter – oder für spätere Familienfeiern.

Doch der Triumph währte kurz. Anton war schneller, als ich dachte. Ich rannte, aber er rannte hinterher. Und dann spürte ich es: den Schlag mit dem Rechenstiel, direkt in die Beine. Ich fiel, heulte – und tat das, was kleine Jungs in solchen Momenten eben tun.

Ich lief zu meinem Vater. Schluchzend, wütend, voller Empörung: „Der hat mich geschlagen!“ Und oh ja, mein Vater wurde richtig laut. „Du hast meinen Sohn nicht zu schlagen!“ brüllte er Anton entgegen. Es flogen Worte – keine Pinsel mehr.

Malerei á la Horst
Malerei á la Horst

Ein paar Tage später war alles wieder gut. Erwachsene sind seltsam. Ich wusste damals noch nicht, wie wichtig Versöhnung sein kann. Denn Anton – genau der – spielte zu Weihnachten regelmäßig den Nikolaus. Und in diesem Alter glaubte ich noch. Fest.

Hätte er gewollt, hätte er mir die Rute gegeben. Doch er blieb freundlich. Wohl, weil sein Gebiss längst befreit von dem leichten Grünstich. Vielleicht auch, weil sogar Nikolaus mal klein angefangen hat.

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Schlagworte: Erinnerung Familienleben Kindheit

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