Mit 71 Jahren blickt man anders auf diese Welt. Dabei ist es auch für jüngere Menschen heutzutage schwierig, optimistisch zu sein. Was Jüngeren vielleicht noch wie eine neue Welt erscheint, ist für uns Ältere oft ein Déjà-vu. Rentenkrise, soziale Ungleichheit, Klimawandel, politische Radikalisierung – das alles wirkt nicht wie plötzlich auftauchende Stürme, sondern wie so manche Wetterlage, die zurückkehrt, nur heftiger, drängender, bedrohlicher. Irgendwie hat man vieles davon miterlebt oder sogar mit eigenen Augen gesehen.
Ich erinnere mich an die Debatten um die Rentenfinanzierung in den 1980er Jahren. Kurt Biedenkopf sowie andere kluge Köpfe sprachen schon damals von der demografischen Entwicklung, die alles verändern würde. Weniger Junge, mehr Alte – die Rechnung war simpel, und sie war bekannt. Die Renten sollten steuerfinanziert werden, weil das Umlagesystem so nicht mehr finanzierbar wäre. Die Begeisterung der Politik und der Journaille können Sie sich vorstellen! Doch die Politik scheut halt tiefgreifende Reformen. Der Wähler könnte sein Kreuz an die „falsche Stelle” machen. Mindestens in jedem Jahrzehnt gab es seither dieselben Mahnungen. Heute stehen wir vor einer Wirklichkeit, die niemanden überraschen dürfte – und doch wirkt es, als hätten wir sie verschlafen. Wir haben uns halt nicht getraut. Und jetzt haben wir den Salat! So ist das, wenn notwendige Reformen bereits an der Angst der Politiker vor einem verantwortlichen Handeln scheitern.
Die Beurteilung und Abspeicherung dessen, was als Information auf uns einströmt, wird vom vorhandenen Informationsstand geformt. Erst aus dem Zusammenwirken von geistigem Verständnis der Informationen und deren Einordnung wird ein akzeptables Weltbild.
Das gleiche Muster zeigt sich beim Sozialstaat. Ich erinnere mich an hitzige Auseinandersetzungen um seine „Überforderung“. Was für einen Affenzirkus haben die Unternehmer veranstaltet, als es endlich – nach vielen vergeblichen Anläufen – den Mindestlohn gab! Das Ganze geht weiter. Es scheint, als würde sich in diesen erlauchten Kreisen keiner für die Menschen interessieren, die von diesem Mindestlohn ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Doof, dass es tatsächlich immer mit Risiken verbunden ist, solche Schritte zu gehen. Der Sozialstaat kann auch überdehnt werden. Und damit wäre niemandem gedient.
Jede Krise, ob Ölkrise oder Wiedervereinigung, brachte die Diskussion neu auf die Tagesordnung. Und immer wieder wurden Anpassungen vorgenommen – die Einführung von Hartz IV etwa war schmerzhaft und umstritten, aber sie hat den Arbeitsmarkt nach zähen Jahren wieder stabilisiert, wenn auch um den Preis wachsender sozialer Spannungen. Diese Reform ist mitverantwortlich für die niedrigen Renten dieser Ära. Darüber wird selten geredet, lieber über ihre Erfolge. Auch von der Globalisierung profitierten viele. Allerdings hauptsächlich die, die bereits vermögend waren. Wie schlimm die Folgen der Globalisierung in den USA waren, kann man dort betrachten. Auch Trump sehe ich als das Ergebnis dieser nur den Reichen nutzenden Entwicklung.

Beim Klimawandel fühle ich mich an die Schlagzeilen der 1980er Jahre erinnert: Waldsterben, Ozonloch, die Debatte um sauren Regen. Damals schien es, als stünde die Natur unmittelbar vor dem Kollaps. Und doch haben wir es geschafft, zumindest einige dieser Gefahren zu bannen. Der Verzicht auf FCKW hat die Ozonschicht stabilisiert, Filtertechnik hat den Wald gerettet, der „saure Regen“ wurde eingedämmt. Es ist ein Beweis dafür, dass die Menschheit fähig ist, Bedrohungen nicht nur zu erkennen, sondern ihnen auch zu begegnen. Nur beim Klimawandel als Ganzem ist diese Lernfähigkeit bislang zu zögerlich geblieben.
Auch die deutsche Einheit gehört in diese Rückschau. Sie wurde von vielen als Überforderung des Sozialstaates und als unlösbare wirtschaftliche Aufgabe gesehen. Und ja, die Kosten waren gewaltig, die sozialen Brüche tief. Aber wer heute auf Ostdeutschland schaut, sieht auch, wie viel erreicht wurde. Es ist nicht die Katastrophe geworden, die manche befürchteten, sondern eine anstrengende, aber im Kern gelungene Transformation. Es ist schwierig, das Ausmaß an Frustration und deren Auswirkungen im Osten und die Konsequenzen für die Zukunft des Landes zu bewerten.
Wir steuern ohne Bremsen auf eine Zukunft zu in der die Menschheit sich durch Klimaveränderungen selbst ausmerzt, und auf dem Weg dorthin durch den Einfluss weniger, den öffentlichen Diskurs beherrschender, Kreise daran gehindert wird deren Narrativ zu hinterfragen oder gar ad absurdum zu führen.
Selbst in der Arbeitswelt gibt es ähnliche Erfahrungen. Die Angst vor Massenarbeitslosigkeit nach der Automatisierung in den 80er und 90er Jahren war groß. Heute stehen wir wieder vor einer Welle technologischer Umwälzungen, diesmal durch Künstliche Intelligenz. Dass sie viele Arbeitsplätze vernichten wird, ist nicht mehr die Frage. Aber ebenso gewiss ist: Sie wird neue schaffen. Die Geschichte lehrt uns, dass Technik Gesellschaften erschüttert, aber auch neue Horizonte öffnet.
Was mich auch beunruhigt, ist der Rechtsruck. In meiner Jugend war es noch selbstverständlich, rechte Parolen scharf zurückzuweisen. Heute haben sie ihren Platz in Parlamenten, oft getragen von Menschen, die den demokratischen Grundkonsens infrage stellen. Diese Entwicklung ist kein Naturgesetz, sondern die Folge einer wachsenden Entfremdung zwischen Bürgern und Politik. Hier hilft kein Verweis auf vergangene Erfolge – hier müssen wir wachsam bleiben.
Und doch, bei aller Skepsis: Es wäre falsch, nur die Untätigkeit zu beklagen. Denn die Geschichte zeigt auch, dass wir lernen können. Das Ozonloch, das Waldsterben, sogar die große Finanzkrise von 2008, natürlich auch Corona – sie alle hätten unsere Gesellschaft schwerer treffen können, wenn wir nicht gehandelt hätten. Der Mensch hat die Fähigkeit, Bedrohungen zu erkennen, ihnen kreativ zu begegnen und nachhaltige Lösungen zu finden. Es geschieht zu spät, zu zaghaft, oft erst im Angesicht der Katastrophe. Aber es geschieht.
Vielleicht liegt genau darin die letzte Form von Hoffnung, die man im Alter noch gelten lassen kann: keine jugendliche Euphorie, kein blinder Fortschrittsglaube, sondern der nüchterne Realismus, dass wir trotz allem immer wieder Wege finden, uns vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ob uns das auch beim Klimawandel, bei der digitalen Spaltung und beim Schutz der Demokratie gelingt, ist offen. Aber auszuschließen ist es nicht. Und das allein reicht, um nicht ganz zu verzweifeln.
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„.…sondern der nüchterne Realismus, dass wir trotz allem immer wieder Wege finden, uns vor dem Schlimmsten zu bewahren…”
Genau so, Horst, sehe ich das auch, wenn gleich ich nicht die Augen davor verschließen möchte, dass noch einige sehr unbequeme und wahrscheinlich auch schmerzhafte Manöver auf diesem Weg zu nehmen sein werden.
Ich stelle mal um:
Wenn es beim Klimawandel nicht gelingt brauchen wir uns um digitale Spaltung und den Schutz der Demokratie keine Gedanken mehr zu machen.
Dann denke ich über unseren Planeten hinaus .… und hoffe auf den ZUFALL.
Der alles auf unserem Planeten entstehen ließ. Möglicherweise schafft er es irgendwo im Weltall nochmal, und dann besser als hier .…
[Danke für die Erwähnung durch Zitate]