Teure Lücke, billige Erzählung: Die ESR und der deutsche Selbstbetrug

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von Horst Schulte

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Faktisch hat Axel Bojanowski, Chefreporter Wissenschaft, gepunktet – politisch aber, ganz im Stile des Hauses, die Dinge grob verbogen. Da liegt das Problem dieses Textes: Aus realen Risiken der ESR macht der Autor eine Weltanschauungsschau, in der Deutschland gewissermaßen als unschuldiger Klimaheiliger verfolgt wird und die EU als kalte Umverteilungsmaschine erscheint. Dass dies auf Klima-Verrücktheiten diverser deutscher Regierungen (vor allem dem Einfluss der verrückten Grünen) zurückgeht und solche Kritik in unserer jeder Klimapolitik abgeneigten Bevölkerung, verfängt, ist ein gewollter Nebeneffekt. Die Klimapolitik wird auch von Bojanowski als Hauptgrund für den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands gesehen.

Die eigentliche Geschichte – jahrelange Blockade und Halbherzigkeit primär im Verkehr und Gebäudebereich – verschwindet hinter dem rechten Lieblingsnarrativ von der angeblich „übergriffigen“ Klimapolitik.

Ja, Deutschland hat sich ehrgeizige Ziele auferlegt – und ja, es droht nun, seine Glaubwürdigkeit grandios zu verspielen. Aber nicht, weil Brüssel sich in sadistischer Laune ein „Strafregime“ ausgedacht hätte, sondern weil Regierungen unterschiedlichster Farbkombinationen genau jene Sektoren politisch geschont haben, in denen es wehtut: Pendler, Pkw, Heizung, Bestandsschutz. Wer das heute als quasi naturgegebenes Schicksal präsentiert, verschleiert, dass hier über Jahre sehr bewusste Entscheidungen getroffen wurden – von Union, SPD, FDP, Grünen, und zwar im Modus „Klimaziel ja, aber bitte ohne spürbare Konflikte“.

Der Clou an Bojanowskis Konstruktion: Er wirft der Politik Ideologie vor, während er selbst streng entlang eines ideologischen Rasters argumentiert. Gerne Attacke auf „Klimavorreiter“, gerne Empörung über „teure Symbolpolitik“, aber kein Wort darüber, dass genau diese angebliche „Vorreiterrolle“ im Alltag oft nur auf dem Papier stand. Dass ausgerechnet ein Land, das Jahrzehnte vom Export fossiler Technologien, von Dienstwagenkultur und Billigflug-Realität profitiert hat, heute im ESR-Rahmen als heroisches Opfer inszeniert wird, ist nicht Analyse, sondern Legendenbildung.

Natürlich gibt es ein Verteilungsproblem: Wohlhabende Staaten tragen höhere Lasten, ärmere profitieren vom Zertifikatehandel, und die konkrete Ausgestaltung der EU‑Mechanismen ist politisch verhandelbar und angreifbar. Wer aber so tut, als sei damit schon bewiesen, dass ambitionierte Klimapolitik „dem Klima nichts bringt“, verwechselt ökonomische Verteilungsfragen mit physikalischen Grundtatsachen. CO₂ bleibt in der Atmosphäre, egal ob es in Deutschland, Polen oder China emittiert wurde. Die einzige seriöse Frage lautet also: Wie organisiert man Emissionsreduktion so, dass sie global wirkt, sozial tragfähig ist und politisch durchhaltbar bleibt?

Man kann im Detail trefflich streiten: über Tempo, Instrumente, Technologieneutralität, über Fehlanreize, über eine EU, die an manchen Stellen blind für soziale und industrielle Realitäten ist. Was man nicht seriös machen kann: ein System, dessen Grundlogik auf Kosteneffizienz und Lastenteilung beruht, in ein Strafnarrativ umzuschreiben, in dem Deutschland als geprügelter Klimaheiliger (vor allem aber dummer Akteur) erscheint. Das ist kein nüchterner Blick auf Fehler der Klimapolitik, sondern eine ideologische Projektion – nur eben eine andere als die, die der Autor so gerne bei „den Regierungen“ verortet.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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