Wir können alles sein

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Es ist vor­ge­kom­men, dass ich mich nach der Beerdigung eines mir nahe­ste­hen­den Menschen gefragt habe, was eigent­lich grö­ßer wäre: die Trauer um die Verstorbenen oder mein Selbstmitleid. 

Bei mir schwingt der doch etwas selbst­süch­ti­ge Gedanke mit, dass ich die­sen Menschen nie mehr wie­der­se­hen und nie mehr mit ihm spre­chen kann. Kennen Sie die­ses Gefühl? Vielleicht gehört das zur Trauer um die Verstorbenen dazu. Mir scheint es etwas selbst­süch­tig, wenn die Dimension des eige­nen Verlustes fast so schwer wiegt, wie die Trauer um die Verstorbenen. Lässt sich das über­haupt von­ein­an­der trennen?

Ich kann mich fürch­ter­lich strei­ten (und nei­ge zudem auch noch dazu, rich­tig laut zu wer­den), wenn bestimm­te Aspekte einer Diskussion mei­nem Empfinden für rich­tig und falsch wider­spre­chen. In die­ser Beziehung muss ich mich in den letz­ten Jahren ver­än­dert habe. Meine Toleranzgrenze scheint mir gerin­ger zu sein als früher ™.

Ist es mein per­sön­li­cher Egoismus, der bei­de Feststellungen mit­ein­an­der verbindet? 

Meinungsfreiheit und Hetze

Wie kann ich glaub­wür­dig und kon­se­quent für die Unterstützung einer akti­ven und mensch­li­chen Flüchtlingspolitik ein­tre­ten, wenn der Vorwurf erho­ben wird, ich wür­de mei­ne Meinung nur des­halb ver­tre­ten, weil ich auf der Seite der Guten ste­hen, mich also gut füh­len möch­te? Für die Folgen wür­de ich ja nicht per­sön­lich oder direkt ein­ste­hen müssen.

Nehmen wir einen Augenblick an, es wäre so: wür­de das nicht auch erklä­ren, wes­halb so vie­le Medienvertreter und – in zurück­ge­hen­der Zahl – Politiker die (ursprüng­li­che) Flüchtlingspolitik Merkels unter­stützt haben? 

Direkte Auswirkungen auf mein Leben hat es bis­her noch nicht gege­ben. Wahrscheinlich ist das auch bei vie­len ande­ren Menschen so. Trotzdem gibt es eine – jeden­falls von mir so emp­fun­de­ne – dra­ma­ti­sche Veränderung in der Haltung in der Bevölkerung unse­res Landes zu Geflüchteten. 

Mit Silvester 2015 hat sich auch bei mir viel ver­än­dert. Mein nai­ver Idealismus ist der Einsicht gewi­chen, dass die Probleme noch viel grö­ßer wer­den könn­ten. Skepsis ist lang­sam gewach­sen; mit jeder Meldung über Mord, Totschlag und Vergewaltigungen ein biss­chen mehr. 

Alles falsch?

Ich habe mich selbst dis­zi­pli­niert, zur Ordnung geru­fen, denn ich wuss­te natür­lich, dass auch Falschmeldungen und Übertreibungen in ein­deu­ti­ger Absicht lan­ciert wur­den. Aber auch, dass es sol­che schreck­li­chen Taten, began­gen von Geflüchteten an Geflüchteten oder Einheimische gab. Mein Unbehagen wuchs.

Die Fixierung auf Meldungen ein­schlä­gi­ger Art in den sozia­len Netzwerken und zuneh­mend auch in ande­ren Medien schaff­ten ein ande­res Klima, dem wenig ent­ge­gen­zu­set­zen war.

Warum pas­sie­ren so furcht­ba­re Sachen? Warum wird uns die Willkommenskultur auf so schreck­li­che Art und Weise gedankt? 

Wie mögen die geflüch­te­ten Menschen dar­über den­ken, dass wir ihnen gehol­fen haben und wie sich man­che von „ihren Leuten” dafür bedan­ken? Ich höre fast wie Sie jetzt den­ken: „Was für ein nai­ver, dum­mer Gedanke!”. Ja, das ist naiv. Aber viel­leicht auch irgend­wo menschlich.

Bestimmt sind wir einer Meinung dar­über, dass es naiv gewe­sen wäre, unter den Hunderttausenden von Geflüchteten nicht auch schlech­te Menschen zu ver­mu­ten. Zum Beispiel wür­den unbe­wäl­tig­te Traumata vie­ler die­ser Menschen nicht fol­gen­los bleiben.

Zeitbomben

Es ist nicht schwer, sich vor­zu­stel­len, zu wel­chen „Zeitbomben” die jun­gen Männer mutie­ren könn­ten, die sich mona­te­lang in Flüchtlingsunterkünften ohne sinn­vol­le Beschäftigung und mit schlech­ten Zukunftsperspektiven aufhielten?

All das dürf­te uns eigent­lich gar nicht beschäf­ti­gen, weil die meis­ten ja ohne­hin weder ein Anrecht auf Asyl haben noch aus Kriegsgebieten nach Deutschland ein­ge­reist sind, sagen vie­le. Die meis­ten wären dem­nach ille­gal im Land und müss­ten abge­scho­ben wer­den. Wir ken­nen den Stand die­ser Debatte. 

Was ich nicht ver­ste­he, ist, dass die Grenzen zu Deutschland wei­ter offen sind und dass es trotz aller Erkenntnisse immer noch aus­reicht, „Asyl” zu sagen, um hier Aufnahme zu fin­den und die ent­spre­chen­den Verfahren zu durch­lau­fen. Selbst eine Ausweispflicht – trotz aller nega­ti­ven Erfahrungen – wur­de nicht ein­ge­führt. Wir neh­men Geflüchtete ohne Ausweispapiere auf und wis­sen, dass die­se Tatsache die Abschiebung nach Abschluss der Verfahren fast unmög­lich macht. Alle Zahlen bele­gen das.

Ich las heu­te, dass in einer Berliner Schule von 103 SchülerInnen, ein ein­zi­ges zu Hause deutsch spricht (Bild-Zeitung). Wie wer­den die LehrerInnen heu­te zu Merkels Satz: „Wir schaf­fen das!” stehen?

UN-Migrationspakt

Der Inhalt des jüngs­ten Syrien-Berichtes der Bundesregierung hat zur Folge, dass Abgeordnete der SPD und der Grünen vor einer Abschiebung war­nen. Den Vorschlag, dass wir auch nach Syrien abschie­ben soll­ten, haben erst kürz­lich Politiker gemacht. Natürlich trifft ein Abschiebestopp auch auf Straftäter zu. Davor wer­den Straftäter durch unse­re Gesetze geschützt. Aber wer schützt uns vor den mut­maß­li­chen Straftätern, die deut­sche Landgerichte aus der U‑Haft ent­las­sen, weil deut­sche Gesetze eine bestimm­te Dauer einer Untersuchungshaft unter­sa­gen? Das Landgericht Stuttgart hat soeben zwei mut­maß­li­che Untersuchungshäftlinge (bei­de syri­scher Abstammung) auf frei­en Fuß gesetzt, weil das Gericht einen per­so­nel­len Notstand nicht bewäl­ti­gen konn­te und sich die Männer bereits 1/​2 Jahr in Untersuchungshaft befanden. 

Das bedeu­tet auf gut deutsch: Das Gericht nimmt mit die­ser Begründung in Kauf, dass die Täter sich ent­we­der abset­zen oder unter Umständen (ist ja auch schon vor­ge­kom­men) wei­te­re Straftaten bege­hen. Ich fin­de es unver­ant­wort­lich und gleich­zei­tig macht es die Lage in die­sem Land deut­lich. Das Gericht scheut nicht davor zurück, die man­gel­haf­ten Voraussetzungen bzw. die feh­len­de per­so­nel­le Ausstattung zu benennen.

Ein Sprecher des Landgerichts ver­wies auf die „außer­or­dent­li­che Belastungssituation“ durch eine Ballung von gro­ßen Straf- und Zivilverfahren. Man habe das Ministerium über den Engpass infor­miert und dar­auf­hin eine zusätz­li­che Stelle erhal­ten; inzwi­schen sei zudem eine wei­te­re Schwurgerichtskammer geschaf­fen worden. 

Quelle

Mich wür­de inter­es­sie­ren, wer gege­be­nen­falls die Verantwortung für wei­te­re Opfer die­ser mut­maß­li­chen Straftäter über­neh­men wird. Wir wis­sen, dass in einem sol­chen Fall auch nicht mehr pas­sie­ren wür­de als bei­spiels­wei­se den Verantwortlichen für den Berliner Flughafen.

Weil wir das alles so pri­ma orga­ni­siert haben und abwi­ckeln, wird wohl der UN-Migrationspakt am 11. November in Marrakesch auch von Deutschland unter­zeich­net wer­den. Ein Unterfangen mit dem ich mich in den letz­ten Tagen aus­ein­an­der­ge­setzt habe. Manche Informationen soll­ten beru­hi­gen, ande­re das Gegenteil. Manche Meldungen sind viel­leicht („völ­lig”) falsch. Ich hät­te es jeden­falls zum einen gut gefun­den, wenn die Regierung die­ses Abkommen nicht so lan­ge unter dem Radar gehal­ten hät­te und zum ande­ren die Gegenargumente etwas kon­kre­ter wider­legt wor­den wären. Das ist näm­lich (bis­her) mit­nich­ten geschehen.

Ich hal­te mei­ner­seits die Behauptungen, dass der UN-Migrationspakt nicht ver­bind­lich sei, für falsch. Es ist näm­lich durch­aus so, dass auch ande­re unver­bind­li­chen UN-Vereinbarungen in vie­len Ländern die Handhabungspraxis der jewei­li­gen Themen bestimmen. 

Soft und Hard

Soft Law ist nicht unver­bind­lich, wie die Regierung nicht müde wird zu beto­nen. Die Beispiele dafür, wie der Charakter angeb­lich unver­bind­li­cher Verabredungen wirkt, zei­gen die Einflüsse (UN-Weltfrauenkonferenz 1995) Gender Mainstreaming aber auch die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder UN-Klimakonferenzen. Alle tru­gen das Siegel der Unverbindlichkeit, heu­te ent­spre­chen sie inter­na­tio­na­len Standards, deren Regeln sich Staaten ohne Übernahme in natio­na­les Recht „unter­wor­fen” haben. 

Es wäre an sich wenig dage­gen zu sagen, wenn nicht die Demokratie durch das Vorgehen qua­si aus­ge­he­belt wür­de. Es wer­den näm­lich nicht die natio­na­len Parlamente in Abstimmungen ent­schei­den, son­dern es sind viel­mehr mit mora­li­schem Druck ver­bun­de­ne Vorgaben, die von oben nach unten wir­ken und die mit­hil­fe der Medien und in die­sen Bereichen täti­gen NGO’s in den unter­zeich­nen­den Nationalstaaten umge­setzt wer­den kön­nen. Der so auf­ge­bau­te Legitimationsdruck erle­digt so also das, was nor­ma­ler­wei­se durch die Entscheidungen natio­na­ler Parlamente von­stat­ten gehen müsste. 

Wir sind nicht in der Klarheit unter­wegs, die uns die Chance lie­ße. Wir müs­sen die strei­ti­gen Diskussionen füh­ren, sonst kom­men wir nicht zu kon­struk­ti­ven Lösungen. Im Interesse unse­res Landes und unse­rer Menschen wäre dies aber die Basis dafür, dass wir wie­der zuein­an­der fin­den. Das Land ist wie ande­re euro­päi­sche und außer­eu­ro­päi­sche in die­sen Fragen zer­ris­sen. Das darf so nicht bleiben.

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8 Gedanken zu „Wir können alles sein“

  1. Hi Horst, der Artikel tan­giert so vie­le Themen, dazu komm ich jetzt nicht. Nur zu einem Punkt: 

    „Wie kann ich glaub­wür­dig und kon­se­quent für die Unterstützung einer akti­ven und mensch­li­chen Flüchtlingspolitik ein­tre­ten, wenn der Vorwurf erho­ben wird, ich wür­de mei­ne Meinung nur des­halb ver­tre­ten, weil ich auf der Seite der Guten ste­hen, mich also gut füh­len möchte?”

    Das ist eines die­ser irre füh­ren­den Pseudoargumente, die das Gegenüber „sprach­los machen” sol­len, denn wer könn­te bestrei­ten, dass man sich ger­ne „gut fühlt”? Dass wir uns „gut füh­len”, wenn wir das aus unse­rer Sicht Gute und Richtige tun – und schlecht, wenn wir etwas dem ent­ge­gen Gesetztes tun – das ist das gewöhn­li­che und unver­meid­li­che Zusammenspiel von Denken/​Handeln und Fühlen.
    Das „gut füh­len wol­len” nun zum über geord­ne­ten Kriterium fürs Denken und Handeln zu erklä­ren, negiert jeg­li­ches ethi­sche und ratio­na­le Denken und Tun. Demnach sind wir alle nur geist­lo­se Idioten auf der Suche nach dem guten Gefühl… woher das „gute Denken und Tun” dann aber kommt, kann die­se Sicht der Dinge nicht erklä­ren. Denn bei WELCHEN Haltungen, Meinung und Handlungen das „gute Gefühl” auf­tritt, wäre belie­big, zufäl­lig, nicht wei­ter begründ­bar. Es hät­te dann eben­so gut sein kön­nen, dass wir uns „gut dabei füh­len”, alle Flüchtlinge lie­ber am Grenzzaun abzu­wei­sen oder gar Schlimmeres.

    Es ist ins­ge­samt grus­lig, wie „Gefühle” sowohl bei Rechten als auch Linken (Mikroaggressionen, Triggerwarnungen, Identitätspolitiken etc.) die Regeln intel­lek­tu­ell red­li­cher Debatten unterhöhlen! 

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