War es Solidarität? Ist Solidarität zeit­lich befristet?

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von Horst Schulte

Lesezeit: 7 Min.

In der «Süddeutschen Zeitung» lese ich, dass «Verbände» sich dafür ein­set­zen, dass Deutschland wie­der mehr Flüchtlinge auf­nimmt. Es gebe freie Kapazitäten und die seit 2015 ange­kom­me­nen Geflüchteten sei­en inzwi­schen gut inte­griert. Gibt es im Land die dafür nöti­ge Solidarität mit Flüchtlingen?

Was meint die Mehrheit?

Ich glau­be, eine Mehrheit unse­rer Bevölkerung [ 1 ], [ 2 ], [ 3 ], [ 4 ] beur­teilt das inzwi­schen anders. Jedenfalls mit grö­ße­rer Skepsis. Ich schlie­ße das übri­gens nicht aus Umfragen oder ver­öf­fent­lich­ten Stimmungsbildern, son­dern vor allem dar­aus, wie sich Meinungsbildner eher sel­ten in den auch rar gewor­de­nen Medienberichten zum Thema posi­tio­nie­ren. Vielleicht liegt das an Corona, also dar­an, dass wir im Land genug «eige­ne» Probleme haben.

Appelle rei­chen jeden­falls nicht aus

Heribert Prantl, SZ, erin­ner­te in einer Kolumne zum Weltflüchtlingstag am 20.6. dar­an, wie sich die Haltung der Politiker und vie­ler Deutscher seit 2015 (auch wegen Corona) ver­än­dert hat. Und er stellt die Frage: Refugee lives don’t mat­ter? Seinen Vergleich zwi­schen der gro­ßen Solidarität zu Beginn der Corona-Krise und dem Verhalten vie­ler Deutscher in der Flüchtlingskrise fin­de ich berech­tigt. Wir haben erlebt, wie es mit der Halbwertszeit von Solidarität in Zeiten von Corona bestellt ist. Warum soll das bei dem ande­ren Thema anders laufen?

Solidarität, ent­stan­den durch Angst

Nachdem wir die Bilder aus Bergamo gese­hen hat­ten, war das Erschrecken über das Leid der Menschen groß. Vielleicht zum ers­ten Mal in der Menschheitsgeschichte war über alle Grenzen hin­weg die Bereitschaft erkenn­bar, alte, kran­ke und schwa­che Menschen vor der Corona-Bedrohung zu beschüt­zen. Die Mehrheit schütz­te die Minderheiten, und sie war bereit, dafür finan­zi­el­le und per­sön­li­che Opfer zu bringen. 

Menschen schei­nen zu unbe­ding­ter Solidarität fähig, und zum Glück nicht nur in der pla­ka­ti­ven, oft nur behaup­te­ten Form, die wir aus poli­ti­schen Statements kennen.

Es geht jetzt um die Solidarität mit den Vereinigten Staaten, es geht um die Tatsache, dass Deutschland fest an der Seite der Vereinigten Staaten steht, und unein­ge­schränkt, ich beto­ne das, unein­ge­schränk­te Solidarität übt.

Gerhard Schröder, «Uneingeschränkte Solidarität» | Politik

Es wäre schön, wenn Solidarität weni­ger stark vom Grad der per­sön­li­chen Betroffenheit oder direk­ten und indi­rek­ten Bedrohung abhän­gig wäre. Selbst dann, wenn ande­re Menschen in gro­ßer Not sind, schaf­fen ande­re es, weg­zu­se­hen und sich still zu verhalten. 

Flüchtlingsschicksale

Manche bekom­men es sogar hin, mit wider­wär­ti­gen, schä­bi­gen Worten das Schicksal von Flüchtlingen zu «kom­men­tie­ren» und sich über die Flüchtgründe ver­ächt­lich zu machen. Die Parallelen zwi­schen Flüchtlingsgegnern und Corona-Leugnern sind wahr­schein­lich nicht ganz zufäl­lig. Die Leute, die mit ihrer ach so alter­na­ti­ven (und angeb­lich auf Freiheit aus­ge­leg­ten) Weltsicht um Anerkennung ihrer Überzeugung kämp­fen, haben nicht nur gemein­sam, sich als Kämpfer gegen den Mainstream (Fake News) behaup­ten zu wol­len, ihnen ist vor allem ihr Egoismus gemein. Blöd, dass es genau die­ser Egoismus ist, der sie in mei­nen Augen so absto­ßend wir­ken lässt und ihre zum Teil schon nach­voll­zieh­ba­ren Argumente entwertet.

Egoismus ist eine fie­se Eigenschaft

Sie glau­ben, ihre per­sön­li­che Existenz und die ihrer Gesinnungsgenossen habe Vorrang. Vielleicht ste­hen des­halb so vie­le von ihnen auf Trump und sol­che miss­ver­ständ­li­chen Sprüche wie «America first». 

Die Solidaritätsbereitschaft ver­än­dert sich offen­bar, wenn die eige­ne Gesundheit und die der Liebsten in Gefahr gerät. Kann man die­ses Verhalten dann über­haupt noch als Solidarität bezeich­nen oder ist das nicht eher ein Anzeichen für Egoismus und eine Art von Selbsterhaltungstrieb?

Das haben wir in der Corona-Krise gelernt. Trotzdem gab es wäh­rend der Corona-Krise eine Reihe von Handlungen, die ich als sehr unso­li­da­risch bezeich­ne. Dazu zäh­le ich die zügi­gen, vor allem unab­ge­stimm­ten Grenzschließungen (selbst inner­halb der EU) und das Zurückhalten von Hilfsmaterial (Masken u.s.w.). Waren das Anzeichen dafür, das der Begriff Solidarität in ande­rem Kontext viel­leicht ganz falsch gewählt war? 

Mit Narrativen leben, die ver­brei­tet wer­den, auch wenn sie nicht überzeugen 

Wie kann man von Gesellschaften wie der unse­ren heu­te erwar­ten, noch mehr Flüchtlinge ins Land zu holen? Erstens haben wir vor allem in den letz­ten fünf Jahren viel mehr getan, als alle es unse­re euro­päi­sche Nachbarn getan haben. Sie waren nicht dazu bereit zu hel­fen. Deutschland hat gehol­fen und dafür den Zorn vie­ler Europäer auf sich gezogen. 

Oder wie muss ich die Narrative vom deut­schen Alleingang ver­ste­hen und die Vorhaltung an die Kanzlerin, den Zusammenhalt inner­halb der EU zer­stört zu haben (Brexit!)? Nun, ich ken­ne natür­lich die gan­ze Geschichte. Und es ist wahr, dass lan­ge zu viel gar nichts (Stichwort: Italien, Lampedusa) und dann eben unab­ge­stimmt gesche­hen ist. Wer hat sich eigent­lich mit der Frage beschäf­tigt, wel­che Alternative zu den ja angeb­lich zum Teil sogar rechts­wid­ri­gen Entscheidungen unse­rer Regierung die sich anbah­nen­de Katastrophe ver­hin­dert hätte? 

Menschen in Not – Kirchen

Sich für Menschen in Not ein­zu­set­zen, ist etwas Großartiges. Das Handeln ent­spricht dem christ­li­chen Menschenbild, das ande­re gele­gent­lich so gern für sich pro­kla­mie­ren. Aber was, wenn es wirk­lich drauf ankommt? Die AfD aber auch vie­le Konservative außer­halb rechts­extre­mer Gruppierungen kri­ti­sie­ren das Engagement der evan­ge­li­schen Kirche, die sich aktiv mit viel Geld für die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer enga­giert hat. Das fin­de ich rich­tig und alter­na­tiv­los. Wir sehen, wel­che Absichten die EU und ihre Mitgliedsstaaten ver­fol­gen. Es ist so beschä­mend, aber es funktioniert. 

Viele Deutsche wol­len kei­ne Flüchtlinge mehr im Land auf­neh­men. Leider blei­ben auch die Leute, die nach wie vor bereit dazu sind, wei­te­re Flüchtlinge auf­zu­neh­men still. Vielleicht liegt es an den feh­len­den Antworten auf die vie­len Fragen, die mit der Migration zusammenhängen? 

Unser Herz ist weit. Aber unse­re Möglichkeiten sind endlich.

Bundespräsident Gauck: Rede zum Tag der Deutschen Einheit – DER SPIEGEL

Was, wenn wir unse­re Kapazitäten über­for­dern – Im Krankenhaus ist es schnell zu erken­nen, wenn die Kapazitätsgrenzen erreicht sind. Wie ist das bei der Aufnahme von Flüchtlingen?

Stimmt es, dass die Hundertausenden, die seit 2015 nach Deutschland kamen, gut inte­griert sind? 

Wenn die Hälfte aller Flüchtlinge, die seit 2015 zu uns gekom­men sind, eine Arbeit gefun­den hat, wüss­te ich gern, ob es sich um regu­lä­re Arbeitsverhältnisse han­delt oder ob die­se durch staat­li­che Subventionen ali­men­tiert sind und wie lan­ge dies noch der Fall sein wird.

Viele Fragen

  1. Was ist mit den Familien? Wie sind die­se unter­ge­bracht und aus wel­chen Mitteln wer­den die­se Menschen unter­stützt? Ich ver­las­se mich ungern auf Informationen, die von «Verbänden» lan­ciert wer­den, die damit natür­lich ihrer Politik Nachdruck ver­lei­hen möchten. 
  2. Was pas­siert, wenn wir wirk­lich vor einer gro­ßen Krise (Corona) am Arbeitsmarkt ste­hen und die Sozialkassen über­las­tet werden? 
  3. Wie lan­ge wird es dau­ern, bis rech­te Fanatiker erneut durch die Straßen zie­hen und behaup­ten, Flüchtlinge näh­men ihnen die Arbeit weg? 
  4. Wie ist es unter die­sen Umständen um den inne­ren Frieden im Land bestellt?
  5. Wie tief­grei­fend ist die Verunsicherung im Land, wenn Flüchtlinge und Migranten sich so mas­siv und abfäl­lig im Stile der BLM-Bewegung über Deutschland und sei­ne auto­chtho­ne Bevölkerung äußern?
  6. Wir ken­nen das alles. Aber dies­mal könn­ten die Auswirkungen viel ver­hee­ren­der sein als je zuvor in unse­rer Nachkriegsgeschichte. Wer berei­tet die Gesellschaft dar­auf vor? 
  7. Wer infor­miert sie wahr­heits­ge­mäß über die Kosten, die den Staat dau­er­haft belasten? 
  8. Ist unser Land in der Lage, die­se Menschen zu befä­hi­gen, sich selbst und ihre Familien zu unterhalten? 
  9. Wie lan­ge wird der Prozess dau­ern und ist es ange­sichts der Dauer sol­cher Integrationsleistungen ver­ant­wort­bar, noch viel mehr Menschen ins Land zu holen?


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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