Wähler: Was für ein hin und her

Der Wäh­ler ist ein scheu­es Reh.

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Mit der Prä­senz der Wäh­ler der AfD und den poli­ti­schen Aus­wir­kun­gen befas­sen wir uns per­ma­nent. Wir regen uns furcht­bar dar­über auf, wenn ihre Par­tei­funk­tio­nä­re und Anhän­ger ihre unsäg­li­chen Tira­den ver­brei­ten und wun­dern uns gleich­zei­tig dar­über, dass die Zahl derer, die dem irgend­et­was abge­win­nen kön­nen, so groß ist, gefühlt jedenfalls. 

Genau die­se Wahr­neh­mung zeigt, dass wir trotz unse­res all­täg­li­chen Umgan­ges mit den inzwi­schen nicht mehr so ganz neu­en Medi­en offen­bar nicht all­zu viel dazu­ge­lernt haben. Wir spre­chen von Medi­en­kom­pe­tenz, Quel­len­kri­tik, sind aber über Absich­ten und gewis­se Ein­sich­ten bis­her kaum hin­aus­ge­kom­men. Auch die­je­ni­gen nicht, die als so genann­te „Nati­ves“ eigent­lich einen ande­ren Zugang haben soll­ten. Dazu gibt es auf­schluss­rei­che Reportagen. 

Neh­men wir den Ein­fluss der „Wer­te­Uni­on“. Leu­te wie der ehe­ma­li­ge Chef des deut­schen Ver­fas­sungs­schut­zes, Maa­ßen, sind bei Twit­ter omni­prä­sent. Einen gro­ßen Ein­fluss kann die­ser Ver­ein auf die CDU nicht haben, denn er hat nur ca. 4000 Mit­glie­der. Das ist ca. ein Pro­zent der Mit­glieds­zahl der gesam­ten CDU. Wir schlie­ßen aus dem Schmerz, den uns die stän­di­gen Tira­den der „Wer­te­Uni­on“ und der AfD berei­ten, dass die­se Leu­te eine grö­ße­re Bedeu­tung inner­halb unse­rer Gesell­schaft haben, als es tat­säch­lich der Fall ist. Im Netz sind sie stark prä­sent, das ist bekannt. Von der Mei­nungs­füh­rer­schaft sind die­se Leu­te zum Glück weit ent­fernt. Es liegt an uns, etwas gegen den Ein­druck zu unter­neh­men, dass ras­sis­ti­sches und völ­kisch-natio­na­lis­ti­sches Gedan­ken­gut im Inter­net zu häu­fig unwi­der­spro­chen, weil unkom­men­tiert bleibt.

Millionen von Wechselwählern

Die AfD steht bun­des­weit nach wie vor bei maxi­mal 14 bis 15 %. In einer Umfra­ge Anfang Febru­ar wur­de die AfD sogar nur mit 10% taxiert – ein Aus­rei­ßer, der für mich immer auch ein Hoff­nungs­schim­mer ist. Im Osten genießt die AfD eine höhe­re Wert­schät­zung, als im Wes­ten. Die AfD in Ham­burg liegt in den Umfra­gen aktu­ell bei 7%. Bei den letz­ten Wah­len in Ost­deutsch­land erhielt sie bis zu 27% der Wäh­ler­stim­men. Für Sach­sen-Anhalt, in dem nächs­tes Jahr gewählt wird, gab es angeb­lich eine Umfra­ge, die die AfD bei 25% sieht. Damit wäre sie größ­te Par­tei. Die AfD jubelt schon. In den offi­zi­el­len Wahl­um­fra­gen taucht die Umfra­ge nicht auf. Ich habe die­sen Wert, außer in einen Tweet der AfD, nir­gends gelesen. 

Gegen­über den Ergeb­nis­sen der letz­ten Bun­des­tags­wahl (2017) haben sich die Wer­te für die AfD (12,6%) nicht all­zu stark bewegt. Bei den Bun­des­tags­wah­len ent­sprach ein Stim­men­an­teil von einem Pro­zent unge­fähr 500.000 Wäh­le­rIn­nen. Die AfD hät­te seit 2017 also nach die­sen Umfra­gen ca. 1,5 Mio. Wäh­le­rIn­nen hin­zu­ge­won­nen. Was ist das gegen den Ver­lust der SPD, der sich unge­fähr auf 3,3 Mio. Wäh­le­rIn­nen beläuft? Die Uni­on ist auch nicht viel bes­ser dran. Gegen­über dem amt­li­chen End­ergeb­nis von 2017 ver­liert sie nach aktu­el­len Umfra­gen auf Bun­des­ebe­ne ca. 6 %, also eben­falls unge­fähr 3 Mio. Wäh­ler­stim­men. Die Links­par­tei hält ihr Ergeb­nis der Bun­des­tags­wahl eini­ger­ma­ßen, die FDP ver­zeich­net mitt­le­re Verluste. 

Keine Konstanz

Die Grü­nen haben seit dem Herbst 2017 (8,9%!) sage und schrei­be ca. 6,6 Mio. Wäh­le­rIn­nen hin­zu­ge­won­nen. Wenn wir statt auf die Pro­zent­zah­len zu schau­en, dar­auf ach­ten, wie vie­le Wäh­le­rIn­nen seit 2017, ori­en­tiert an den aktu­el­len Umfra­gen, ihre Par­tei­prä­fe­ren­zen ver­än­dert haben, ist das viel­leicht die mas­sivs­te Ver­än­de­rung mit der wir es in der Geschich­te unse­rer Demo­kra­tie bis­her zu tun hatten. 

Dass der Gewinn der Grü­nen sich rech­ne­risch aus den Ver­lus­ten der Uni­on und der SPD speist, ist bemer­kens­wert. Dage­gen sind die ca. 1,5 Mio., die die AfD seit­her gewon­nen hat, doch eher ein „Flie­gen­schiss“, der zudem wohl mit den für mich eigen­ar­ti­gen Prä­fe­ren­zen unse­rer ost­deut­schen Bür­ge­rIn­nen erklär­bar ist.


Viel­leicht ist die Frus­tra­ti­on so vie­ler Men­schen gar nicht mal damit zu erklä­ren, dass unse­re Gro­ko-Regie­rung kon­kre­te Feh­ler gemacht oder sich zu sehr im „Klein-Klein“ ver­fan­gen hat. Gibt es Ver­än­de­run­gen in unse­rer Gesell­schaft, die von der Regie­rung nicht oder nicht hin­rei­chend beach­tet wur­den? Jedem wer­den dazu Poli­tik­fel­der ein­fal­len, die auch von der Poli­tik zwar oft ange­spro­chen aber nicht effek­tiv bear­bei­tet wurden.

Migra­ti­on, Gewalt­kri­mi­na­li­tät, Kli­ma, Digi­ta­li­sie­rung, Ren­te, Bil­dung, Infra­struk­tur. Alles Berei­che, die wie aus der Pis­to­le geschos­sen kom­men. Vie­le sagen zu Recht, dass es die AfD nur des­halb gibt, weil die­se The­men nicht so bear­bei­tet wur­den, wie die Bür­ge­rIn­nen sich dies von der Regie­rung gewünscht hät­ten. Kei­ne Angst, ich stei­ge jetzt nicht in die ein­zel­nen The­men­fel­der ein oder begrün­de, wes­halb ich über­haupt zual­ler­erst auf die­se gekom­men bin. 

Volksparteien verlieren

Unter­schied­li­che Ansich­ten über die Bear­bei­tung gibt es in allen Par­tei­en. So gibt es in der Uni­on („Wer­te­Uni­on“) ein­ge­schlos­sen, in der SPD, der FDP und auch den Lin­ken sehr unter­schied­li­che Hal­tun­gen zur Migra­ti­on. Das ist bei ande­ren Kern­the­men auch nicht anders. In den ehe­ma­li­gen Volks­par­tei­en ist das nichts beson­de­res, soll­te man mei­nen. Sie soll­ten eini­ger­ma­ßen geübt sein mit dem Zusam­men­füh­ren unter­schied­li­cher Posi­tio­nen. Das soll­te doch der Vor­teil von Volks­par­tei­en sein, jeden­falls wird es von Poli­ti­kern und Medi­en gern so dar­ge­stellt. War­um funk­tio­niert das heu­te nicht mehr? Viel­leicht des­halb, weil die Stim­men­an­tei­le der ehe­ma­li­gen Volks­par­tei­en so krass dahin­schmel­zen und die Span­nun­gen inner­halb der Par­tei das nicht mehr zulassen?

Auch auch ande­ren Par­tei­en (ein­schließ­lich der Lin­ken) sind unein­heit­li­che Stand­punk­te zu wich­ti­gen Fra­gen zu hören. 

War­um soll­te sich die­se hohe Vola­ti­li­tät, die sich in den Par­tei­en fin­det, nicht auch auf die Wäh­ler aus­wir­ken? Wun­dern und ärgern wir uns vor die­sem Hin­ter­grund zu Recht, dass vie­le Men­schen gegen­über der Demo­kra­tie skep­tisch sind und des­halb für auto­kra­ti­sche „Füh­rer“ Sym­pa­thien entwickeln? 

Theorie und Praxis

Wie ist in die­sem Zusam­men­hang die hef­ti­ge Dis­kus­si­on zu sehen, die die Äqui­di­stanz der Uni­on zu den rech­ten und lin­ken Rän­dern des poli­ti­schen Spek­trums aus­ge­löst hat? Was wür­de pas­sie­ren, wenn die Uni­on ihren Par­tei­tags­be­schluss teil­wei­se auf­he­ben wür­de? Oder ande­res gefragt: sind die Sor­gen der Funk­tio­nä­re der Uni­on berech­tigt? Wür­den die Wäh­ler eine, wenn auch bloß sin­gu­lä­re, Zusam­men­ar­beit mit der Lin­ken in Thü­rin­gen gou­tie­ren oder wäre auch das ein „Damm­bruch“, den so vie­le in der hin­ter­fot­zi­gen Akti­on der AfD bei der Wahl des Minis­ter­prä­si­den­ten sehen? Wahr­schein­lich ist der rie­si­ge Par­tei­ap­pa­rat der Uni­on zu plötz­li­chen Kor­rek­tu­ren sol­cher Beschlüs­se nicht in der Lage. Sie wären nicht ohne Risi­ko, kön­nen aber ande­rer­seits eine Stär­kung der Demo­kra­tie bedeu­ten. Wir sehen die Gren­zen, die der Demo­kra­tie und ihren Insti­tu­tio­nen auf­er­legt sind. Sol­che Kor­rek­tu­ren sind lang­wie­rig und bedin­gen das inner­par­tei­li­che Enga­ge­ment von Men­schen mit Über­zeu­gungs­kraft und Charisma.

Ich für mei­nen Teil sehe sel­ten sol­che Men­schen in unse­ren Par­tei­en, wobei ich beob­ach­te, dass die Leu­te, die ich für fähig hal­te, im Hand­um­dre­hen von ande­ren abqua­li­fi­ziert wer­den. Und so weiter. 

Größe des Parlaments /​Kosten

Seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung ist die Zahl der Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten stän­dig ange­wach­sen. Inzwi­schen hat Deutsch­land das zah­len­mä­ßig zweit­größ­te Par­la­ment aller demo­kra­ti­schen Staa­ten (welt­weit!), in Euro­pa ist es sogar das Größ­te. Dass es die Poli­tik bis­her nicht schafft, die­se Situa­ti­on in ver­nünf­ti­ger Wei­se zu ändern, beschä­digt die Demo­kra­tie. Dabei ist die Soll – Grö­ße des Par­la­ments gesetz­lich gere­gelt. Und das wis­sen die Poli­ti­ker auch. Was sind das für Men­schen, die sich in die Ver­ant­wor­tung wäh­len las­sen und die­se dann so wahrnehmen? 

Schluss­fol­ge­run­gen, die nicht nur AfD-Wäh­ler aus sol­chem anhal­ten­den Miss­ver­hal­ten zie­hen, wer­den igno­riert, obwohl das The­ma immer wie­der mal auf der Agen­da auf­taucht. Das glei­che gilt übri­gens für die vom Bun­des­tag beschlos­se­nen Erhö­hun­gen von Diä­ten und ande­ren Leis­tun­gen für Mit­glie­der des Bun­des­ta­ges. Natür­lich hän­gen bei­de Punk­te, die Grö­ße des Par­la­ments und die Fra­ge von Diä­ten und ande­ren Leis­tun­gen zusam­men. Ent­spre­chend kri­tisch wer­den die­se Din­ge in der Öffent­lich­keit bewer­tet. Die Kos­ten für den Poli­tik­be­trieb betra­gen inzwi­schen fast eine Mil­li­ar­de Euro jährlich. 

Wer sich ein wenig mit den Aus­wir­kun­gen der Cum-Ex-Geschäf­te für den Bun­des­haus­halt befasst hat, der wird mit Abscheu davon erfah­ren haben, dass Ver­ant­wort­li­che von maß­geb­li­chen Poli­ti­kern geschützt wer­den. Es wird auf Steu­er­gel­der in Mil­li­ar­den­grö­ßen­ord­nun­gen aus Grün­den ver­zich­tet für die schwer­lich nach­voll­zieh­ba­re Erklä­run­gen gefun­den wer­den dürf­ten. Sofern die­se über­haupt mög­lich wären. Dass die­se Geschich­te kurz vor den Ham­bur­ger Bür­ger­schafts­wah­len an die Öffent­lich­keit kom­men, lässt nur den Schluss zu, dass es sich ein­mal mehr um wider­li­che poli­ti­sche Machen­schaf­ten han­delt. Die Hand­lung und ihre Öffent­lich­ma­chung sind inso­fern gleich­wer­tig und natür­lich dazu geeig­net, jede Illu­si­on einer wenigs­tens halb­wegs kor­rup­ti­ons­freie Repu­blik zu erschüttern.

Es gibt neben den immer wie­der genann­ten Poli­tik­the­men also wei­te­re Pro­blem­fel­der, die den AfD-Leu­ten in die Hän­de spielen. 

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: AfD Demokratie

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4 Gedanken zu „Wähler: Was für ein hin und her“

  1. Zur Grö­ße des Bun­des­tags und der beharr­li­chen Wei­ge­rung der bestehen­den Regie­rung, des­sen Beset­zung in eine (unge­fäh­re) Grö­ßen­ord­nung zu ver­set­zen, die geset­zes­kon­form ist, habe ich für mich Fol­gen­des beschlossen:

    Soll­te es zu kei­ner Reform­re­ge­lung kom­men und der nächs­te zu wäh­len­de Bun­des­tag wie­der in der­art exor­bi­tan­te Grö­ßen­ord­nun­gen aus­zu­ufern dro­hen, dann wer­de ich zur Bun­des­tags­wahl nicht wäh­len. Punk­tum, The­ma für mich beendet.

  2. In mei­nem Fall ist es ja bloß Regie­rungs­ver­dros­sen­heit, bezo­gen auf die aktu­el­le Regie­rung bzw. dau­er­haft auf die regie­ren­den Par­tei­en und deren Miss­brauch von poli­ti­scher Macht (und der gefäl­li­gen Selbst­be­die­nung aus dem öffent­li­chen Steuertopf).
    Der aktu­el­le Bun­des­tag ist nur des­we­gen auf­ge­bläht – und der nächs­te wird es wohl (noch mehr) sein, weil die­se Par­tei­en es nicht anders wol­len. Der Bun­des­tag ist unter ihrer Ägi­de zu einer wohl­fei­len Ali­men­tie­rungs­platt­form für gewähl­te Abge­ord­ne­te ver­kom­men (wor­den), sei­ne poli­ti­sche Wirk­sam­keit dage­gen abge­wirt­schaf­tet zu einer rei­nen Abnick­an­stalt für Regierungsentscheidungen.

    Die Kor­rek­tur wenigs­tens in Rich­tung des gesetz­lich vor­ge­ge­be­nen Rah­mens der Bun­des­tags­grö­ße wäre das Min­des­te, was die­se Regie­rung voll­brin­gen könn­te, wenn sie in mei­nen Augen noch einen klei­nen Rest an Glaub­wür­dig­keit und Red­lich­keit behal­ten wollte.

    Ande­rer­seits:
    Mich demo­kra­tie­ver­dros­sen zu machen wird auch die­ser Regie­rung nie­mals gelin­gen, auf gar kei­nen Fall.

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