Ich streite mich gelegentlich darüber, wie die Berichterstattung von Correctiv hinsichtlich der Remigration zu bewerten ist. Für manche scheint klar: Alles gelogen. Ich mache dahinter einmal ein großes Fragezeichen! Wurde Hunderttausenden etwa ein Bär aufgebunden, was angebliche Kernaussagen der Konferenz anbelangte und war der Wirbel demnach umsonst? Ich mag es nicht glauben!
Nun, in einer Sicht kann man sagen, dass wirklich alles umsonst war. Die AfD liegt in einer Umfrage inzwischen bei 22 % und es scheint noch mehr drin zu sein. Nicht bloß deshalb fordern viele ein Verbotsverfahren gegen die Partei. Ich bin dagegen — so abgrundtief ich die AfD, ihr Personal und ihre Ansagen verachte.
Vorweg will ich sagen, dass ich nicht glücklich darüber bin, dass unser Land es offenbar für notwendig gehalten hat, der Bevölkerung journalistisch Aufpasser an die Seite zu stellen. Mit anderen Worten: Ich finde die finanzielle Unterstützung des Recherchenetzwerks Correctiv durch den Staat oder Institutionen des Staates falsch! Wenn es darum geht, unzulässige oder fragwürdige Handlungen politischer Parteien oder ihrer Protagonisten aufzudecken, sollte der Verfassungsschutz (dessen Arbeit aufgrund seiner Konstitution [Dienstherr ist das Bundesinnenministerium] ja leider auch nicht unumstritten ist) eingreifen und aktiv werden.
Oder diese Aufgabe sollte von freien Journalisten übernommen werden, die unabhängig sind und die im besten Sinne die vierte Gewalt im Staat repräsentieren. War das nicht früher so? Ich denke an Watergate, die Flick-Affäre oder andere unglaubliche Geschichten. Diese Skandale wurden von unabhängigen Journalisten aufgedeckt – im besten Sinne.
Wenngleich behauptet wird, dass der Verfassungsschutz weitgehend autark operiert, ist ein Unterstellungsverhältnis dennoch gegeben. Dass Präsident Haldenwang eine Karriere als Berufspolitiker im Bundestag anstrebt und als CDU-Mitglied gute Chancen auf Unterstützung der Partei setzen kann, halte ich das für bedenklich. Unabhängigkeit stelle ich mir definitiv anders vor.
Im Nachgang zum Potsdamer Treffen der Neuen Rechten gab es inzwischen eine Reihe von Gerichtsverfahren. Von vielen werden wir vermutlich nichts hören, weil sie vielleicht im Sande verlaufen oder noch nicht abgeschlossen sind. Bisher ging es um Punkte, die man, was das öffentliche Interesse angeht, wohl als nebensächlich bezeichnen könnte.
Trotzdem werden diese Entscheidungen von den Rechten als Beleg für die Behauptung gesehen, die Correctiv-Aussagen seien (komplett) widerlegt.
- Landgericht Hamburg (324 O 61/24): Ulrich Vosgerau, ein Teilnehmer des Treffens, klagte gegen Correctiv wegen der Wiedergabe seiner Äußerungen. Das Gericht untersagte Correctiv die Behauptung, Vosgerau habe ein Musterschreiben zur Anfechtung von Wahlen befürwortet2., Absatz 1] In anderen Punkten wurde Vosgeraus Klage abgewiesen2.
- Landgericht Hamburg: In einem weiteren Verfahren vor dem Landgericht Hamburg wurde NDR und ZDF untersagt, im Zusammenhang mit dem Treffen von „Ausweisung“ oder „Deportation“ deutscher Staatsbürger zu sprechen3.
- Landgericht Berlin II (Az. 2 O 296/24 eV): Correctiv scheiterte mit dem Versuch, der AfD-Politikerin Beatrix von Storch die Bezeichnung „dreckige Correctiv-Lüge“ zu verbieten. Das Gericht argumentierte, der Correctiv-Bericht erwecke den „falschen Eindruck“, dass in Potsdam auch über die Ausweisung deutscher Staatsbürger diskutiert worden sei4.
- In Sellners Vortrag ging es laut Correctiv nicht um die Ausweisung deutscher Staatsbürger im rechtlichen Sinne, sondern um die Ausübung eines „hohen Anpassungsdrucks“ durch „maßgeschneiderte Gesetze“5.
Kernaussagen der Urteile:
- Die Gerichte bestätigten zwar die grundlegenden Rechercheergebnisse von Correctiv, kritisierten aber den Bericht in Bezug auf die Darstellung der „Ausweisung“ deutscher Staatsbürger4.
- Es wurde kritisiert, dass der Bericht den Eindruck erwecken könnte, es sei in Potsdam auch über die Ausweisung deutscher Staatsbürger im rechtlichen Sinne gegangen4.
- Diese Kritik führte dazu, dass anderen Medien Formulierungen wie „Ausweisung“ oder „Deportation“ im Zusammenhang mit dem Treffen untersagt wurden3.
- Der „falsche Eindruck“, der durch den Bericht erweckt wurde, ist relevant für das AfD-Verbotsverfahren, da eine zwangsweise Verbringung deutscher Staatsbürger aus Deutschland mit dem Grundgesetz nicht vereinbar wäre4.
Kritischer als diese Scharmützel und die für Correctiv eher unbequemen Urteile, die mir persönlich in Teilen (von Storch) unverständlich sind, könnten Entscheidungen werden, die in der Sache erst noch getroffen werden. Es gibt Tendenzen innerhalb der bisherigen gerichtlichen Feststellungen, die den Correctiv-Artikel hinsichtlich seiner Kernaussagen infrage stellen.
Erstmals gerichtliche Kritik an Kernbotschaft Correctiv hatte in der Vergangenheit stets betont, dass der Kern der Recherche gerichtlich nicht beanstandet wurde („Die Recherche und ihre Ergebnisse stehen“). Das LG Berlin tut jetzt aber genau das: Es beanstandet den Bericht inhaltlich in einem wesentlichen Punkt eindeutig. Dabei argumentiert das Gericht vor allem mit dem zusammenfassenden Ergebnis, das den falschen Eindruck vermittle, es sei auch über die Ausweisung von Staatsbürgern diskutiert worden.
Es ist nicht wahr, dass beim Potsdamer Treffen von Deportation die Rede war. Das hat Correctiv selbst im Beitrag auch nirgends behauptet. Andere Medien brachten den Begriff ins Spiel. Das „heute journal“ hatte berichtet, dass auf dem Treffen die Deportation von Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft geplant gewesen sei. Das Gericht untersagte diese Aussage, da sie als unwahre Tatsachenbehauptung eingestuft wurde. Es ist nicht wahr, dass beim Treffen von der Ausweisung deutscher Staatsbürger gesprochen wurde. Der Begriff Remigration war und ist hingegen längst in aller [sic?] Munde (Weidel beim Parteitag).
Ein Vergleich der Gerichtsurteile mit den Artikeln von Correctiv zeigt, dass die Kritik der Gerichte sich auf die Zusammenfassung des Berichts bezieht3. Während im Artikel selbst detailliert die Aussagen von Martin Sellner wiedergegeben werden, entsteht in der Zusammenfassung der Eindruck, es sei in Potsdam tatsächlich über die Ausweisung deutscher Staatsbürger im rechtlichen Sinne diskutiert worden3.
Die Correctiv-Berichterstattung über die „Potsdamer Treffen“ hat wichtige Informationen über die Aktivitäten und Pläne von Rechtsextremen und AfD-Politikern ans Licht gebracht. Die Recherche war gründlich und transparent. Obwohl die Gerichte die Kernaussagen des Berichts bisher bestätigten, gab es Kritik an der Wortwahl in der Zusammenfassung in Bezug auf die „Ausweisung“ deutscher Staatsbürger.
Dieser Fall wirft Fragen nach der Verantwortung von Journalisten bei der Berichterstattung über sensible politische Themen auf. Einerseits ist es wichtig, Missstände aufzudecken und die Öffentlichkeit zu informieren. Andererseits besteht die Gefahr, durch ungenaue Formulierungen oder einseitige Darstellungen den Sachverhalt zu verzerren und ungewollte politische Folgen zu bewirken.
Die Kritik an der Correctiv-Berichterstattung zeigt, dass selbst bei sorgfältiger Recherche Fehler passieren können. Wenn das gegenüber einer politischen Partei mit wachsender Anhängerschaft in einem emotional aufgewühlten Umfeld geschieht, können getroffene Aussagen schnell berechtigt oder nicht rasch in Misskredit gebracht werden.
Wichtig ist, dass Journalisten transparent arbeiten, ihre Quellen offenlegen und offen für Kritik sind. Correctiv hat diese Prinzipien in seiner Berichterstattung über die „Potsdamer Treffen“ im Wesentlichen erfüllt. Dass Correctiv von staatlichen Institutionen finanziell unterstützt wird und insofern nicht unabhängig agiert, ist in meinen Augen bedenklich und macht jede Aktivität, die die gleiche „Stoßrichtung“ hat, schwierig bzw. angreifbar.
Insgesamt leistet Correctiv mit seiner Arbeit einen geschätzten Beitrag zur Aufklärung und zur Stärkung der Demokratie. Die strikte Unabhängigkeit muss allerdings das Ziel sein.
Ich bin gespannt, wie das LG Berlin entscheiden wird: Klagen gegen Correctiv-Recherche: Rechtsstreits zum Rechtsextremen-Treffen | taz.de
Referenzen
1. Redaktionsstatut – correctiv.org, Zugriff am Januar 16, 2025, https://correctiv.org/ueber-uns/redaktionsstatut/
2. Unterlassungsantrag gegen Correctiv-Berichterstattung nur …, Zugriff am Januar 16, 2025, https://justiz.hamburg.de/gerichte/oberlandesgericht/gerichtspressestelle/unterlassungsantrag-gegen-correctiv-berichterstattung-nur-teilweise-erfolgreich–635106
3. Enthüllung um Geheimtreffen: Warum Correctiv nun doch wegen der Kernaussage verklagt wird – RND, Zugriff am Januar 16, 2025, https://www.rnd.de/politik/enthuellung-um-geheimtreffen-warum-correctiv-nun-doch-wegen-der-kernaussage-verklagt-wird-3BIWU7SKMBHT5BRGQWWV6HIKFA.html
4. AfD-Politikerin darf Correctiv ‚dreckige Lüge‘ vorwerfen – LTO, Zugriff am Januar 16, 2025, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/gericht-sieht-falschen-eindruck-zum-potsdamer-treffen
5. Klagen gegen Correctiv-Recherche: Rechtsstreits zum Rechtsextremen-Treffen | taz.de, Zugriff am Januar 16, 2025, https://taz.de/Klagen-gegen-Correctiv-Recherche/!6060879/
6. Geheimplan gegen Deutschland – Correctiv, Zugriff am Januar 16, 2025, https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/
7. Potsdamer Treffen vom 25.November 2023 und Correctiv-Bericht – Deutscher Bundestag, Zugriff am Januar 16, 2025, https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-1023376
8. In eigener Sache – correctiv.org, Zugriff am Januar 16, 2025, https://correctiv.org/themen/in-eigener-sache/
9. Gerichtsverfahren: Was steht für Correctiv auf dem Spiel? – LTO, Zugriff am Januar 16, 2025, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/correctiv-bericht-was-droht-verfahren
10. Der Correctiv-Bericht verdient nicht Preise, sondern Kritik – und endlich eine echte Debatte – Übermedien, Zugriff am Januar 16, 2025, https://uebermedien.de/97285/der-correctiv-bericht-verdient-nicht-preise-sondern-kritik-und-endlich-eine-echte-debatte/
Entdecke mehr von Horst Schulte
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
Hier im Blog werden bei Abgabe von Kommentaren keine IP-Adressen gespeichert! Ihre E-Mail-Adresse wird NIE veröffentlicht! Sie können anonym kommentieren. Ihr Name und Ihre E-Mail-Adresse müssen nicht eingegeben werden.