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Partizipation durch Zerstörung

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Wir führen uns gern gegenseitig vor. Ob wir die sich bietenden Chancen mit Augenzwinkern, krasser Ablehnung oder übertriebener Zustimmung nutzen, häufig bleiben „Verletzte“ zurück. Das ist uns egal, scheint es. Hauptsache, wir kriegen es hin, wesentliche Facts zwischen Popcorn und Mischgetränk nicht zu verpassen.

Ob es tatsächlich Fakten sind, liegt allein im Auge des Betrachters und/oder der eigenen Peergroup. Das nehmen wir nicht so eng. Wir sind aufnahmefähig, solange die Richtigen es sagen.

Besteht unser vorgeblicher Wunsch nach mehr Partizipation an politischen Entscheidungen wirklich oder überwiegt nicht ein Hang zur Dekonstruktion?

Das Internet ist für viele von uns ein sakrosanktes Vehikel für alles mögliche – vor allem natürlich die eigene Meinung. Ich sage das, obwohl ich mich als langjähriger Blogger mit Kontakt zu den sozialen Medien der „Netzgemeinde“ zugehörig fühlen sollte. Stattdessen fühle ich mich zunehmend fremd und bin ein übers andere Mal verstört. Wahrscheinlich bin ich zu alt und zu blöd, um stets nur die guten Seiten des Netzes zu betonen und vor allem zu reflektieren.

Menschen ohne Netzaffinität und Erfahrungen mit sozialen Netzwerken scheinen für politische Ämter der Gegenwart ungeeignet. So tönt es aus dem Netz.
Nico Lumma fordert folgerichtig: „Es müssen andere Leute her, Leute, die das Digitale wirklich verstehen. Das ist ein langsamer, mühseliger Prozess. Aber ein notwendiger!“

Demokratie

Das Internet könnte der Katalysator für Demokratie sein. Leider fördert es aber vor allem den Frust vieler Menschen, weil sie – wie ich vermute – nicht im Stande sind, der Menge an Information und Desinformation Herr zu werden bzw. die gravierenden Unterschiede zu sehen. Nicht, dass sie ihn per se nicht kennen würden, sie sehen ihn nicht, weil sie vielleicht nicht die Zeit haben, den Dingen auf den Grund zu gehen. Friss oder stirb. So lautet demnach die Devise. Einordnungen von Journalisten existieren zwar weiterhin, sie werden aber nicht mehr unvoreingenommen akzeptiert. Das ist an sich eine gute Entwicklung. Scheinbar ist unsere Lernkurve aber längst nicht so steil, wie wir es uns wünschten. Was bis zur Erreichung einer neuen Ebene mit unserer Gesellschaft und der Demokratie geschehen könnte, macht wahrscheinlich vielen Leuten Sorgen.

Die provokante These ist Trumpf. Darauf ein „falsches“ Wort vom Falschen (AfD, alter weißer Mann, Fleischesser, Klimaleugner, CDU-Vorsitzende) zieht – mit etwas Pech – ein virtuelles Todesurteil nach sich.

Authentizität

Wir wünschen uns authentische Politiker, die die Dinge beim Namen nennen und uns nicht mit geübtem Politikersprech langweilen. Solange es dem Mainstream gefällt, ist das prima und es funktioniert (manchmal). Aber nie sehr lange. Popularität hat ihre Tücken. Beispiele für den tiefen Fall nach einer Hochphase gibt es schließlich genug.

Vom Klimakabinett hören wir, dass im September konkrete Maßnahmenpläne zu erwarten sind. Egal, was wir von dieser Einrichtung halten mögen, seine Implementation erklärt in der Bräsigkeit des Berliner Politikbetriebs, dass meines Erachtens das Stop – Signal verstanden wurde.

Statt einer Timeline mit Meilensteinen gab es gestern wieder „nur“ ein Statement. Das ist viel zu wenig für die Klimaaktivisten und für all diejenigen, die zum Beispiel nicht schnell genug von der Kohleverstromung wegkommen. Als ob es die Widerstände in anderen Ländern (neuerdings z.B. Polen, dessen nationalistische Regierung bei den EU-Wahlen deutlich gestärkt wurde) gar nicht gäbe.

FridayForFuture, den Grünen und ihrer Anhängerschaft geht alles nicht fix genug. Dabei sind sie es als die selbstverständlichen Nutzer (Natives) des Internets doch gerade, die – anders als nationale Politiker und vorrangig national agierende Parteien – einen offenen Blick für die Interdependenzen haben sollten, die die Globalisierung im Guten wie im Schlechten mit sich bringt.

Das weltweite Internet bietet alle Voraussetzungen, um die in den ersten zehn Artikeln unserer Verfassung verankerten Grundrechte aller Bürger in diesem Land auszuhöhlen. Dies gilt insbesondere für das Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit in Artikel Fünf – eine wesentliche Grundlage unserer funktionierenden Demokratie – und es gilt letztlich auch für den Kernsatz unserer Verfassung, den Artikel Eins des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Um solche Gefahren für unser aller Freiheit künftig richtig einschätzen und Vertrauen in das Medium fördern zu können, müssen wir dem Internet und seinen Nutzern mehr Sensibilität, mehr Aufmerksamkeit und Forschung widmen.

Quelle: Joachim Gauck, bevor er Bundespräsident wurde.
https://www.divsi.de/publikationen/studien/divsi-milieu-studie/vorwort-des-divsi-schirmherrn-joachim-gauck-4/

Daran, wie diese Sätze damals aufgenommen wurden, erinnere ich mich noch gut. Die Reaktionen im Netz waren typisch und sind es bis heute. Wir meinen, wir hätten mehr Durchblick als „die Politiker“. Aber wenn es um die Risiken geht, die das Internet für unsere Freiheit darstellt, verschließen mir zu viele die Augen. Es klingt oft ein bisschen wie: „Dieses Spielzeug lass ich mir doch von dir nicht wegnehmen!“ Als ob es darum ginge.

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Horst Schulte
Herausgeber, Blogger, Autor und Hobby-Fotograf
Seit 2004 blogge ich über Politik und Gesellschaft – also seit die meisten noch SMS statt Tweets geschrieben haben. Mit 70 Jahren lebe ich immer noch im schönen Bedburg, direkt vor den Toren Kölns, und schreibe über alles, was die Welt bewegt (oder mich zumindest vom Sofa aufstehen lässt).

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Artikelinformationen:

Gesellschaft

Gesellschaft, Politik, Rezo

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