Kann uns die Demokratie ver­lo­ren gehen?

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Standardbild

Im Osten sind ja ohnehin viele BürgerInnen unzufrieden mit dem, was ihnen als Demokratie zugemutet wurde. Überhaupt werden die Kritiker des Systems lauter. Was zweifellos an den vielen Krisen liegen dürfte, durch die wir uns in den letzten Jahren bewegt haben. Wohin führt die Unzufriedenheit mit dem, was für viele ohnehin keine echte Demokratie mehr…

Die USA sind heu­te nicht mehr in der Lage sich auf eine Wirklichkeit zu eini­gen und des­halb sind sie auch nicht mehr in der Lage Probleme zu erken­nen zu ana­ly­sie­ren und zu handeln.

(Klaus Brinkbäumer, ehe­ma­li­ger Spiegel-Chefredakteur, Autor des Buches:
«Im Wahn: Die ame­ri­ka­ni­sche Katastrophe»)

Was glau­ben Sie, wie weit Deutschland von die­ser trau­ri­gen Zustandsbeschreibung noch ent­fernt ist? Reden nicht vie­le auch bei uns gern von Polarisierung der Gesellschaft? Aber viel­leicht ist das nur eine Übertreibung bezo­gen auf die USA, ein vor allem durch die erra­ti­sche Politik Trumps her­vor­ge­ru­fe­nes Unwohlsein, das bei nähe­rer Betrachtung nicht standhält? 

Ich ver­ste­he von dem, was in den USA geschieht zu wenig, um mir dar­über ein Urteil erlau­ben zu kön­nen. Dass mich so man­cher Bericht (nicht nur die ein biss­chen über­trie­ben schei­nen­den von Elmar Theveßen) über die Vorgänge in den USA erschüt­tert hat, wer­den vie­le nach­voll­zie­hen kön­nen. Dass es in Europa und Deutschland vie­le Menschen gibt, die Trump und sein Wirken gut fin­den, über­rascht und pro­vo­ziert mich immer noch, obwohl ich mich inzwi­schen an ver­que­re Sichtweisen gera­de auch wäh­rend der Corona-Pandemie gewöhnt habe.

Jetzt auch in Europa und Deutschland

Ich sehe gegen­über der ame­ri­ka­ni­schen Demokratie ein paar Vorteile in Deutschland, die trotz mei­ner begrenz­ten Kenntnisse über US-Verhältnisse ins Auge ste­chen. Da wäre zunächst ein­mal das Mehrparteiensystem, das auch nicht nur posi­ti­ve Seiten auf­weist, das trotz der bei Republikanern und Demokraten exis­tie­ren­den brei­ten poli­ti­schen Strömungen viel­leicht weni­ger zu pola­ri­sie­ren­den Effekten tendiert. 

Ich fin­de es nicht gut, dass US-Präsidenten in der Regel aus Familien stam­men, die nicht nur Einfluss, son­dern auch wahn­sin­nig viel Geld besit­zen. Man kann sagen, in den USA wird nie­mand Präsident, der nicht sehr reich und des­sen Familie nicht über gro­ßen Einfluss ver­fügt. Vielleicht war Präsident Obama eine Ausnahme? In den letz­ten Jahrzehnten gibt es jeden­falls genug Beispiele, die mei­ne Behauptung stüt­zen können. 

Dass Präsident Reagan mit­hil­fe der Mafia ins Amt kam, ist nicht weni­ger erschüt­ternd als manch ande­re Personalie. Dass Leute, die an der Spitze der Nahrungskette ste­hen, für nor­ma­le Bürger wenig tun, klingt doch nur auf den ers­ten Blick nach bos­haf­ter Unterstellung eines Antikapitalisten. Warum konn­te Trump Präsident wer­den? Doch nur des­halb, weil bestimm­te Bevölkerungsgruppen in den USA von allen demo­kra­ti­schen Parteien seit Jahrzehnten grob ver­nach­läs­sigt wurden.

Für sol­che Dramen ist das poli­ti­sche System in Deutschland nicht gemacht. Der Vorteil der auf zwei Amtsperioden begrenz­ten Präsidentschaften in den Vereinigten Staaten dage­gen, fällt posi­tiv ins Gewicht. Angela Merkel ist immer noch Bundeskanzlerin. Es gibt nicht weni­ge im Land – auch mit Einfluss – die sich sogar heu­te noch eine wei­te­re Amtszeit Merkels vor­stel­len kön­nen. Ich fän­de es gut, wenn die Amtszeiten der deut­schen Regierungschefs eben­falls auf zwei Legislaturperioden begrenzt wären. 

Nur zwei Legislaturperioden für Spitzenpersonal

Dass wir in den letz­ten Jahren bei­na­he durch­gän­gig von einer Großen Koalition regiert wur­den, ist nicht nur aus demo­kra­tie­theo­re­ti­schen Gründen ein Problem. Wir haben bei wich­ti­gen Fragestellungen der letz­ten Jahre (Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Pandemie) schmerz­haf­te Erfahrungen gemacht. Der Einfluss der Opposition und der Parlamente war zwi­schen­durch sogar der­art redu­ziert, dass man die Unterstützung der GroKo-Parteien brauch­te, um die zah­len­mä­ßi­ge Unwucht etwas zu redu­zie­ren. Wie schlecht das funk­tio­niert, sehen wir am Verhalten der GroKo, wenn es um die Arbeit in Untersuchungsausschüssen geht – wenn die­se denn über­haupt kon­sti­tu­iert wurden.

Wer geglaubt hat, dass die GroKo immer die rich­ti­gen Antworten geben wird und des­halb zum Wohle unse­res Landes arbei­ten wür­de, der dürf­te inzwi­schen eines Besseren belehrt wor­den sein. Es ist, glau­be ich, schon etwas dar­an, dass wir Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ein biss­chen zu viel dar­auf ver­trau­en, dass der Staat es schon rich­ten wird. 

Wir über­deh­nen den Sozialstaat, in dem wir immer mehr Geld hin­ein­ste­cken, auf der ande­ren Seite aber nur wenig dar­auf ach­ten, wie effi­zi­ent das vie­le Geld wirkt. Es dau­ert oft end­los lan­ge, bis auf Fehlentwicklungen reagiert wird. Inzwischen liegt die Größenordnung für den Sozialausgaben pro Jahr in Deutschland bei über einer Billion Euro! Diese Zahl stammt noch aus der Vor-Corona-Zeit! Jetzt scheint das Koordinatensystem (Schwarze Null) voll­stän­dig aufgehoben. 

Das Land, in dem Milch und Honig fließen

Für die Maßnahmen der Regierung habe ich Verständnis, ich fin­de es mit­un­ter jedoch befremd­lich, mit wel­cher Selbstverständlichkeit und Anspruchshaltung man­che Gruppen unse­rer Gesellschaft Forderungen an den Staat rich­ten. Kann das auf Dauer funk­tio­nie­ren? Was pas­siert, wenn die hohe Verschuldung trotz des noch «bil­li­gen» Geldes dazu führt, dass Sozialleistungen mas­siv gekürzt werden? 

Ich fin­de, von Roger Köppel (schwei­ze­ri­sche Weltwoche) kommt gewöhn­lich nicht all­zu viel Kluges. Aber er hat den Vorteil der direk­ten Demokratie in einem Beitrag ein­mal sehr schön zusammengefasst.

Im Vergleich mit Ländern wie Frankreich oder Deutschland brauch­te es kei­ne star­ken Führungspersönlichkeiten (Macron, Kurz), die zuerst ein­mal in ihre jewei­li­ge Position gebracht wer­den muss­ten, nach­dem das ste­ti­ge anschwel­len­de Missfallen und Rumoren der Gesellschaft nicht mehr über­hört wer­den konn­te. In der Schweiz wer­den sys­tem­be­dingt poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Wünsche nach Veränderungen behut­sam und inter­es­san­ter­wei­se auch schnel­ler nach vorn entwickelt.

Ein gro­ßer Vorteil der direk­ten gegen­über der par­la­men­ta­ri­schen Demokratie · Horst Schulte

Etwas mehr von der Schweiz

Das ist mein Traum. Nicht die poli­ti­schen Parteien wür­den nach ihrem Gusto regie­ren, son­dern sie hiel­ten sich dar­an, was der Souverän ver­langt. Dass es in Deutschland anders ist und die Wahlen – auch ganz unab­hän­gig von nied­ri­gen oder hohen Wahlbeteiligungen – nicht wirk­lich viel bewir­ken, soll­ten wir an der Zusammensetzung unse­res Parlaments erken­nen. Damit mei­ne ich nicht das Auftauchen der AfD, son­dern die Zustände, die durch die GroKo fast zemen­tiert wirken.

Finanzkrise

Auch wenn die­ser Text einen ande­ren Schluss nahe­legt, es ist nicht so, dass ich per­sön­lich ein Problem mit Merkels Regierung hät­te. Ich war für die Maßnahmen der Regierung wäh­rend der Finanzkrise. Allerdings bin ich sehr ent­täuscht davon, dass über Akutmaßnahmen hin­aus, nichts von einer zukunfts­wei­sen­den Politik inner­halb der Eurogruppe und der EU ins­ge­samt zu sehen ist. Deutschland spielt dabei kei­ne gute Rolle. Man woll­te mit den getrof­fe­nen Maßnahmen Zeit gewin­nen. Die hat man bekom­men, ziel­füh­ren­de Lösungsmodelle jedoch nicht. So wird das irgend­wann ein­tre­ten, was die mir sehr unlieb­sa­men Kassandras der Szene seit Jahr und Tag an die Wand malen. 

Energiepreise

Als Merkel die Energiewende mit dem Ausstieg aus der Kernenergie ein­ge­lei­tet hat, gab es kei­nen poli­ti­schen Widerstand. Man könn­te behaup­ten, Merkel habe das Momentum für die Entscheidung genutzt. Die Umfragen waren nach Fukushima ja völ­lig ein­deu­tig. Nur, dass sich dar­an kaum einer erin­nern will.

Dass wir heu­te in Deutschland die höchs­ten Strompreise welt­weit zah­len und die Regierungen manch ande­rer Länder die deut­sche Entscheidung mit Kopfschütteln quit­tie­ren, inter­es­siert den sie­ges­ge­wis­sen Mainstream nicht. 

Mit einer mil­li­ar­den­teu­ren Deckelung der EEG-Umlage hat die Bundesregierung deut­lich höhe­re Strompreise im nächs­ten Jahr ver­hin­dert – dau­er­haft spür­ba­re Entlastungen für Verbraucher und Firmen aber sind nicht in Sicht.

Dauerhafte Entlastung bei Strompreis nicht in Sicht – Wirtschaft welt­weit – Pforzheimer-Zeitung

Welche Implikationen mit die­ser Tatsache ver­bun­den sind, steht bei all­dem nicht im Fokus. Es wird nicht dar­über dis­ku­tiert, weil ja immer noch davon aus­ge­gan­gen wird (sowas wie eine Staatsdoktrin), dass Deutschland als Vorbild bei den erneu­er­ba­ren Energien gilt. 

Wie die Chinesen und Inder mit ihren Kohlekraftwerken, die schon allein des­halb nicht still­ge­legt wer­den, weil in die­ser Industrie Millionen von Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen. 

Flüchtlingskrise

Auch in der Flüchtlingskrise bil­den wir uns ein, Vorbild sein zu müs­sen. Ich bin ganz ehr­lich. Ich hät­te alle Flüchtlinge von Moria auf­ge­nom­men. Ich hal­te die­se Hilfe für unse­re Pflicht als Menschen. Mein Wille schei­tert aber schon am Widerstand mei­ner Frau. Sie sagt: «Wir kön­nen nicht alle auf­neh­men». Was soll ich dar­auf erwi­dern? Wir hät­ten es bei den 15.000 bewen­den las­sen und uns dann gewei­gert, Flüchtlinge – sagen wir von Samos – auf­zu­neh­men? So ist das mit mei­nem gut­mensch­li­chen Gehabe. Einerseits wür­de ich (das ist mein Ernst) jedem Menschen in Not hel­fen, ande­rer­seits gibt es vie­le – nicht nur gute – Argumente gegen mei­ne Haltung. 

Das wäre auch ein kla­rer Fall für die direk­te Demokratie. Einem Votum wür­de ich mich unter­wer­fen. Aber dazu kommt es nicht, weil wir mit unse­ren etwas über 82 Millionen Einwohnern dafür angeb­lich ja nicht gestrickt sind. Ein paar ande­re ernst­zu­neh­men­de Gründe gegen direk­te Demokratie gibt’s sicher. Selbst dann, wenn sie von der fal­schen Seite kommen. 

Corona

Während der Pandemiebekämpfung erwarb sich unse­re Regierung einen guten Ruf. Inzwischen schei­nen doch lei­der vie­le eine Möglichkeit für sich ent­deckt zu haben, sich durch Fundamentalopposition ins «rech­te Licht» zu rücken. Zum Glück gibt es Meinungsumfragen. Sie zei­gen ein immer noch über­ra­schend kla­res Bild, das die Maßnahmen der Regierung ins­ge­samt trägt. Vielen scheint die Striktheit der Maßnahmen sogar noch nicht weit genug zu gehen. Vielleicht ist das typisch für eine Gesellschaft mit hohem Durchschnittsalter? In ande­ren euro­päi­schen Ländern (Frankreich, Italien und Spanien) ist das schein­bar auch so. 

Es gibt die Ebene der Politik und die des Volkes. Oppositionsparteien und regio­nal Zuständige offen­ba­ren in die­sen Zeiten nicht unbe­dingt Geschlossenheit. 

Premier Johnson glaubt übri­gens, dass die Corona-Lage in sei­nem Land des­halb so unter­schied­lich im Vergleich zu ande­ren euro­päi­schen Staaten wäre, weil die Briten beson­ders frei­heits­lie­bend sei­en. Wahr ist, dass in Großbritannien sehr unter­schied­li­che Maßnahmen gegen Corona prak­ti­ziert wer­den. Die Londoner Zentralregierung hat in vie­len Regionen des Landes kei­nen Einfluss mehr. Auch in Spanien ver­su­chen kon­ser­va­ti­ve Parteien der lin­ken Regierung am Zeug zu fli­cken – aller­dings ziem­lich erfolglos. 

Eine altern­de Bevölkerung im Land bedeu­tet nicht, dass sie weni­ger kri­tisch im Umgang mit den Anti-Corona-Maßnahmen wäre, sie ist nur defi­ni­tiv umsich­ti­ger und vor­sich­ti­ger. Der älte­re Teil der Bevölkerung steht den Maßnahmen ihrer Regierung eher posi­tiv gegen­über, wäh­rend vie­le jün­ge­re Leute eher kri­tisch dazu ste­hen. Daraus abzu­lei­ten, dass die einen Ja-Sager oder die ande­ren unver­ant­wort­li­che Idioten wären, spie­gelt lei­der ein typi­sches Beispiel für unse­re Zeit. 

Austausch von Meinungen, freie Meinungsäußerung

Die Demokratie lebt vom Austausch unter­schied­li­chen Meinungen, von der Balance zwi­schen Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Vor allem aber lebt sie von Demokraten. Nun könn­te man fra­gen, ob die Leute, die sich so für die «stren­gen» Maßnahmen der Regierung im Kampf gegen die Ausbreitung der Pandemie ins Zeug legen, Demokraten sind. Ich mei­ne, ange­sichts der staat­li­chen Eingriffe könn­te man auf die Idee kom­men, dass vie­len die­ser Leute ihre per­sön­li­che Sicherheit weit­aus wich­tig ist als ein paar demo­kra­ti­sche Grundrechte. Ich den­ke, sie alle han­deln auf der Basis eines gro­ßen Verantwortungsgefühls. 

Es sind vie­le, zuletzt über 30%, denen die Maßnahmen der Regierung noch nicht weit genug gehen. Vielleicht nimmt ange­sichts der zwei­ten Welle die Zahl derer ab, die wei­ter gegen die Maßnahmen sind und die des­halb das Gegenteil for­dern. Nämlich, dass sich der Staat gefäl­ligst nicht in die­ser bevor­mun­den­den Art und Weise ein­mi­schen soll. Wenn man den Umfragen glaubt, kann die Zahl derer, die eher für Freiheit und gegen staat­li­che Fürsorge sind, nicht so groß sein. Aber die sagen was ganz anderes. 

Dass vie­le Juristen sich zur Sache kri­tisch äußern, also zum Beispiel sagen, dass die «Regelungen» des Infektionsschutzgesetzes unzu­rei­chend sind, hilft all denen aufs Pferd, die aus die­ser Krise ihre ideo­lo­gi­schen Vorteile zie­hen wol­len. Der Frage, ob wir Bürgerinnen und Bürger dem Staat gegen­über «Gefolgsamkeit» schul­dig sind, lässt sich höchs­tens mit Umfragen begeg­nen. Außerdem haben der Staat und sei­ne Vertreter, unter­stützt durch vie­le Sachverständige eine Lage erzeugt, über die sich treff­lich strei­ten lässt. Der Historiker, Professor Nolte, sagt zum Beispiel: 

Das Verhältnis zwi­schen Bedrohung, Angst und dem Sicherheitsversprechen des Staates ist hei­kel. Vor allem dann, wenn die Bedrohungsdiagnose auch poli­tisch beför­dert wird.

Corona-Krise: Gefahr für die Demokratie? Interview mit Historiker Paul Nolte | Politik

Da hat er sicher einen Punkt. Im Interview erwähnt Nolte mit kei­nem Wort die Tatsache, dass über­all auf der Welt ähn­li­che Verhältnisse gel­ten – jeden­falls in den demo­kra­tisch ver­fass­ten Staaten. Aber das scheint für Juristen und Historiker offen­bar bedeu­tungs­los. Auch die Ärzte, die Gegenpositionen ein­neh­men – wie zuletzt der Ärztepräsident höchst selbst – schei­nen sich an einem Spezialwissen zu ori­en­tie­ren, das dem Otto-Normalbürger nicht zur Verfügung steht. Oft ist es aller­dings so, dass sich alle Empfehlungen dar­auf beschrän­ken, alle Maßnahmen der Regierung ein­fach fal­len zu las­sen. Das mag jeder bewer­ten wie sie oder er möch­te. Für mich ist die­ses Meckern ohne Alternativen zu nen­nen, ein­fach bloß daneben!

Asoziale Medien ver­än­dern die Demokratie

All die­se Herausforderungen fin­den in einer Umgebung statt, die sich durch die bru­ta­le Wettbewerbssituation zwi­schen her­kömm­li­chen und digi­ta­len Medien stark ver­än­dert hat. 

Entweder wer­den wie in den USA, Ungarn, Polen und der Türkei Demagogen ins Amt gewählt, die die Rechte von Minderheiten mit Füßen tre­ten, oder eine Regierung ver­schanzt sich, frei­heit­li­che Rechte garan­tie­rend, hin­ter tech­no­kra­ti­schen Entscheidungen – und ver­liert wie in Deutschland, Großbritannien und Frankreich zuneh­mend an Volksnähe.

Yascha Mounk, deutsch-ame­ri­ka­ni­scher Politologe

Politische und gesell­schaft­li­che Gewissheiten zer­brö­seln. Das för­dern die aso­zia­len Netzwerke nach Kräften.

Facebook nutzt die Profilbildung, um sie als Instrument zur Steuerung von Meinung sei­ner Nutzer zu nutzen. 

Dem Wahlkampfteam von Donald Trump stan­den 2016 bis zu 60.000 Datensätze pro Wähler (Quelle: Julius van de Laar, Strategieberater) zur Verfügung. Bei Obama waren es 2012 ca. 20.000 Datensätze je Wähler. Mit sol­chen Datenmengen las­sen sich in der Vorbereitung zu Wahlen sicher eini­ge Dinge über die poten­zi­el­le Wähler her­aus­fil­tern und für erfolg­rei­che Kampagnen zu nut­zen. ¯\_(ツ)_/¯

Wir wis­sen dar­über inzwi­schen genug, um die Gefahren rich­tig abschät­zen zu kön­nen. Konsequenzen aus die­sem Wissen zie­hen wir aber nicht. Es ist den meis­ten egal, wie der mani­pu­la­ti­ve Charakter der SN-Systeme auf die Demokratie wirkt. Das ist ein kras­ser und unlös­ba­rer Widerspruch zu der Diskussion um den Datenschutz bei der Corona-Warn-App. 

Das Politiker ver­su­chen, der Entwicklung durch die Bekämpfung von Symptomen (Hass) Einhalt zu gebie­ten, ist rüh­rend. Leider kann das aus mei­ner Sicht schon allein des­halb nicht gelin­gen, weil die Zahl der Nutzer und damit auto­ma­tisch auch der­je­ni­gen, die die­sen Hass pre­di­gen, schlicht und ein­fach zu hoch ist. Bei sol­chen Zahlen, mit denen wir es in den aso­zia­len Medien zu tun haben, fin­den sich kei­ne adäqua­ten Mitteln, um das Phänomen wirk­sam zu bekämp­fen. Diesen Kampf wahl­wei­se dem aso­zia­len Netzwerk oder dem Staat zu über­las­sen ist wahn­wit­zig und ist aus­sichts­los. Es besteht längst die Gewissheit, dass die Technik defi­ni­tiv zur Beeinflussung demo­kra­ti­scher Prozesse genutzt werden.

Auch dann, wenn es Radikalen in den genutz­ten aso­zia­len Netzwerken zu viel Restriktionen wer­den soll­ten, haben sie natür­lich Ausweichmöglichkeiten. Auch dann, wenn die Reichweite vor­erst gerin­ger ist als in Netzwerken wie Twitter und Facebook sind die unbot­mä­ßi­gen, men­schen­ver­ach­ten­den Botschaften unbe­hel­ligt dort zu plat­zie­ren. Die Betreiber schert das einen feuch­ten Kehricht. Sie ent­fal­ten auch bei Telegram, Tik Tok oder wie sie alle hei­ßen mögen ihre unheil­vol­le Wirkung. 

Neben den Problembereichen, die ich hier auf­ge­lis­tet und aus mei­ner Sicht kom­men­tiert habe, gibt es eine Vielzahl wei­te­rer Dinge, die die Menschen im Land sehr unter­schied­lich sehen und bewer­ten. Vielleicht ist es so, dass allein die Menge von Herausforderungen mit ihren dar­aus ent­ste­hen­den Unsicherheiten dazu führt, dass wir ganz anders dar­über dis­ku­tie­ren als das frü­her ™ der Fall gewe­sen ist. Wir sind unduld­sam und hören uns gegen­sei­tig nicht mehr in dem Maße zu, wie es in einem Diskurs von­nö­ten wäre. 

Poltische Magazine erklä­ren nicht, vor­zugs­wei­se pran­gern sie an

Eine Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft wie­der zusam­men­rückt, wäre zum einen die Reduktion einer immer nur wach­sen­den Komplexität. Das sagt sich so leicht. Außerdem könn­te man mir vor­hal­ten, dass die dabei irr­tüm­lich davon aus­ge­he, dass vie­le Menschen Ursachen und Zusammenhänge der vie­len Probleme nicht ver­ste­hen wür­den. Ist es so anma­ßend, das zu behaup­ten? Oder trifft es nicht einen wich­ti­gen Punkt?

Nehmen wir das Beispiel Klimawandel. In Bedburg Rhein-Erft-Kreis gibt es für die Grünen kei­ne Schnitte zu gewin­nen. Der Grund ist viel­leicht der, dass die Partei sich nicht an Beschlüsse vori­ger Regierungen gebun­den fühl­te und sich aus oppor­tu­nis­tisch wir­ken­den Gründen auf die Seite von Friday for Future schlug. Wir sehen, dass direk­te Betroffenheit von poli­ti­schen Maßnahmen Rückwirkungen aufs Wählerverhalten haben kann. In den vom Kohleausstieg betrof­fe­nen Gebieten in Ost-Deutschland (Lausitz) ist die­ser Zusammenhang noch viel deutlicher. 

Mainstream ist das Leid der anderen

Bei den Kommunalwahlen lagen die Ergebnisse der Grünen zwi­schen 5 und 8%. Die Zahlen sind auch, aber nicht allein, damit zu begrün­den, dass die Grünen es im Osten grund­sätz­lich schwe­rer hät­ten als hier im Westen. 

Es gibt den Zusammenhang zwi­schen dem Wahlverhalten der Menschen in den betrof­fe­nen Regionen und der Politik der Grünen. Es ist klar, dass das auch genau­so sein soll­te. So funk­tio­niert Demokratie. Da die Arbeitsplatzverluste in den Regionen nicht über­all glei­cher­ma­ßen wir­ken, sind die Ergebnisse der Grünen in umlie­gen­den Gebieten oft viel besser. 

Grüne

Die Grünen ste­hen mit ihrem Thema im Licht, also in der Gunst der Zuschauer. Vielleicht ist das so, weil sie es ver­stan­den haben. Die Volksparteien (angeb­lich ja ein Auslaufmodell) haben es von jeher als ihre Aufgabe gese­hen, die gro­ßen gesell­schaft­li­chen Themen unse­res Landes «abzu­de­cken». Inzwischen sind die­se Themen aber so kom­plex und undurch­dring­lich gewor­den, dass selbst Bundestagsabgeordnete zuge­ben, dass sie nicht wis­sen, wor­über sie eigent­lich abge­stimmt haben. Die Grünen haben sich nicht ver­zet­telt. Sie bear­bei­ten vor allem Umweltthemen. Wie weit das aller­dings trägt, bleibt abzu­war­ten. Spätestens, wenn sie als Teil der nächs­ten Bundesregierung Verantwortung tra­gen, wird sich zei­gen, wie es um ihre Substanz bestellt ist.

Veränderungen wecken Skepsis

Die Angst um Arbeitsplätze allein ist es jedoch nicht, die die Polarisierung auch bei die­sem Themenfeld so stark antreibt. Die Stimmen der­je­ni­gen wer­den lau­ter, die die Energiewende ins­ge­samt für eine grund­fal­sche Entscheidung hal­ten. Wir erle­ben, wie sich die Energiepreise ent­wi­ckeln. Wir neh­men in Europa längst die Spitzenposition ein. Diejenigen, die in dem aus sicher­heits- und kli­ma­po­li­ti­schen Gründen betrie­be­nen Projekt ihre ideo­lo­gi­sche Basis haben (also vor allem die Grünen) nut­zen die gro­ße Verunsicherung der Menschen in Sachen Klimawandel, um den kos­ten­träch­ti­gen Umbau, von dem nicht aus­ge­macht ist, wel­che Auswirkungen er auf lan­ge Sicht für unse­re wirt­schaft­li­che Wettbewerbsfähigkeit haben wird, durchzusetzen. 

Da die Umfragen und Wahlergebnisse der Grünen beacht­lich sind, zie­hen ande­re Parteien nach, weil sie von die­sem Trend pro­fi­tie­ren wol­len. Verfolgt man nun die Social-Media-Diskussionen, so bekommt man leicht den Eindruck, dass es mit die­ser gro­ßen Zustimmung zum ener­gie­po­li­ti­schen Projekt der Grünen viel­leicht doch nicht so weit her ist. 

Ich bin gespannt, wie die deut­sche Autoindustrie, deren Krise lan­ge vor Corona begon­nen hat, sich behaup­ten wird. Wer ver­mag wirk­lich zu sagen, wel­cher Teil die­se Krise ver­ur­sacht hat? Lag es am all­ge­mei­nen Schlechtreden der rück­stän­di­gen deut­schen Autoindustrie (vor allem in unse­ren Medien) oder dem hys­te­ri­schen Vorwurf, dass der Umbau zu ande­ren Antriebsformen poli­tisch nicht hin­rei­chend geför­dert wur­de. Wer auch immer zu ver­ant­wor­ten hat, dass wir viel­leicht die rund 800.000 Arbeitsplätze plus x durch die Auswirkungen irgend­wel­cher Fehler aus­glei­chen müs­sen, der Änderungsprozess ist im Gange. 

Stabil genug?

Ob sich die Politik in den umstrit­te­nen Sektoren als falsch erweist oder nicht, ist für die Frage nach der Stabilität unse­rer Demokratie nicht so rele­vant. Wir wis­sen, wie unter­schied­lich die Leute über die gro­ßen Linien der Politik den­ken. Wir nei­gen nicht wirk­lich dazu, unse­ren Standpunkte durch das Wirkenlassen ande­rer Argumente zu ändern. Wir strei­ten uns auf allen Social-Netzwerk-Kanälen; ich wünsch­te, es gäbe noch den Disput am Stammtisch. Der war oft nicht weni­ger bos­haft, dafür aber weit­aus gerin­ge­rer Durchschlagskraft. Akute Anfälle indi­vi­du­el­ler Dummheit blie­ben gewis­ser­ma­ßen isoliert. 

Für sich genom­men wer­den die unter­schied­li­chen Sichtweisen und die reak­ti­ven Wirkungen des Staates oder sei­ner Institutionen, egal wie restrik­tiv sie unter den jewei­li­gen zeit­li­chen Gegebenheiten auch sein mögen, nicht so wir­ken, dass die Demokratie ins Wanken gerät. Aber machen wir uns nichts vor: Sie gehö­ren zu den Elementen, die das Klima zwi­schen den am Diskurs betei­lig­ten Gruppen nach­hal­tig nega­tiv beeinflussen. 

Ich behaup­te, eine Demokratie bedingt einen funk­tio­nie­ren­den Sozialstaat. 

Wer kann bewei­sen, ob die USA des­halb kei­ne Demokratie ist, nur weil dort ein Sozialstaat in unse­rem Sinne NICHT exis­tiert? Viele euro­päi­sche Länder haben einen Sozialstaat. Dass die­se Sozialstaaten sehr unter­schied­lich aus­ge­prägt sind und wir­ken, liegt wohl vor allem dar­an, wie die jewei­li­gen Bevölkerungen ihn begrei­fen. Bürger in ande­ren euro­päi­schen Staaten mögen staat­li­che Bevormundung nicht. Allein die­ser Tatsache wer­den die Unterschiede geschul­det sein. 

Ich habe Schweden immer als beson­ders sozi­al­staat­lich orga­ni­sier­tes Land wahr­ge­nom­men. Während der Corona-Krise habe ich gele­sen, dass dort über 80jährige kei­ne Chance mehr haben, im Notfall auf die Intensivstation zu kom­men. In Großbritannien wer­den Menschen über 65 kei­ne neue Hüfte mehr bekom­men. Dort wird über die­se Besonderheiten über­haupt nicht dis­ku­tiert. Die Bevölkerung betrach­tet die bestehen­den Regeln als völ­lig nor­mal. Was bei uns in Deutschland los ist, wenn etwas in die­ser Art auch nur ange­spro­chen wur­de, haben Philipp Mißfelder oder Boris Palmer erlebt.

Mit Druck und Haltung ande­re Meinungen unterdrücken

Wenn davon gespro­chen wird, dass die Basis unse­rer Demokratie ero­diert, weil gro­ße Gruppen unse­rer Gesellschaft nicht mehr mit­ein­an­der dis­ku­tie­ren wol­len, stößt man aktu­ell auf den Begriff «Cancel Culture». Spätestens an die­sem Punkte soll­ten alle hell­hö­rig gewor­den sein. Dass vor allem Rechte sich dar­über bekla­gen, heißt nicht zwangs­läu­fig, dass der Vorwurf als sol­cher unbe­rech­tigt ist. Ich wer­de die Beispiele der letz­ten Zeit nicht auf­füh­ren. Aber es sind zu vie­le davon, als dass man die­ses Phänomen ein­fach igno­rie­ren oder bestrei­ten soll­te. Grüne und Linke tun das aber. 

Sie aner­ken­nen nicht, dass – egal wer – für sei­ne Äußerungen in Wort oder Bild nicht aus dem öffent­li­chen Angebot ent­fernt wer­den darf. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich selbst als Demokrat bezeich­net. Mich erin­nern die Maßnahmen (über den Streit sind wir schon hin­aus) an die Bücherverbrennungen im drit­ten Reich. Nur, dass die­ses Sakrileg in unse­ren Zeiten nicht von der SA exe­ku­tiert wird, son­dern von vir­tu­el­len Trupps in den sozia­len Netzwerken. Und zwar, das kann ich mir nicht ver­knei­fen, meis­tens von denen, von denen ich es am wenigs­ten erwar­tet hat­te. Von Linken!

Ich möch­te wet­ten, dass es die glei­chen Leute sind, die damals unter laut­star­ken «Je suis Charlie»-Rufen die Solidarität mit Charlie Hebdo bekun­det haben, nun unlieb­sa­me Bücher mit gewis­sen Tendenzen zu unter­drü­cken suchen. Das ist indiskutabel!

All die­se Scharmützel ste­cken wir weg. Aber, wie ich schon schrieb, die Entwicklung unse­rer Diskursverhinderungskultur kann ein Klima berei­ten, das kei­ner von uns wol­len kann. 

Wenn es in Deutschland auf­grund von Corona und der wach­sen­den Digitalisierung zu Massenarbeitslosigkeit kommt, dürf­te eine intak­te Diskussionskultur von größ­tem Nutzen sein. Wenn die Sozialsysteme (Arbeitslosengeld, Hartz IV, Renten) kol­la­bie­ren, weil nicht mehr genü­gend Menschen sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­ger Arbeit nach­ge­hen, ist der Weg für Feinde der Demokratie frei. In die­sem Fall wer­den uns auch all die furcht­ba­ren Erfahrungen unse­rer Vorfahren nicht mehr davor schüt­zen und die Institutionen (Verfassung, EU), in die wir (teil­wei­se) heu­te unser Vertrauen set­zen, wer­den es eben­falls nicht richten. 

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13 Gedanken zu „Kann uns die Demokratie ver­lo­ren gehen?“

  1. Wenn ich dann von Qualitätskommentaren wie dei­nem ver­schont blie­be, wäre es eine Überlegung wert. Aber ich fürch­te, sol­che Sichten wie dei­ne sind universal. 

    • Ach Horst, was hast Du denn da für einen komi­schen Otto ange­lockt? Sowas braucht doch niemand 😀

      Ich bin noch nicht fer­tig mit dem Lesen, den Rest hebe ich mir für heu­te Abend auf. Aber defi­ni­tiv ein rich­tig tol­ler Artikel! 

  2. Wow, was für ein tol­ler Artikel! Es ist sel­ten, dass jemand mal den gro­ßen Rundumblick wagt! 

    Zu ein­zel­nen Punkten:

    Social Media: Wenn man die Umfragen mit dem per­sön­li­chen Eindruck ver­gleicht, den mensch auf Twitter von der Debattenkultur und der Anzahl von «Hasspostings» gewinnt, so zeigt sich regel­mä­ßig ein recht gro­ßer Unterschied: Die Zahl der «Hassprediger» ist bei wei­tem nicht so hoch, wie es scheint. Schon eine recht klei­ne Gruppe kann einen ordent­li­chen Shitstorm ent­fa­chen, wenn sie koor­di­niert (das geht auch recht spon­tan) vorgeht. 

    Ich habe ja selbst z.B. meh­re­re Twitter-Accounts (für diver­se Blogs einen je eige­nen), ohne es je dar­auf ange­legt zu haben, eine «Mengenwirkung» vor­zu­täu­schen. Denkt man das wei­ter, kann jeder «Hassprediger» locker 20 Accounts bedie­nen, zusam­men mit Gleichgesinnten mul­ti­pli­ziert sich das schnell – und wenn die alle in diessel­be Kerbe hau­en, erweckt das schnell den Eindruck, sie sei­en die Mehrheit oder zumin­dest «sehr viele». 

    Klimawandel/​Arbeitsplätze: Das ist ein lebens­welt­li­ches Dilemma, das die Politik nicht ein­fach lösen kann, egal wel­che Partei. Die «Substanz der Grünen» wird mit Sicherheit weni­ger sicht­bar, wenn sie in der Regierung sind – das ist zu erwar­ten und kaum verhinderbar. 

    Menschen mögen kei­ne Veränderungen und vie­le hän­gen an Arbeitsplätzen, selbst wenn die­se nicht beson­ders ange­nehm und umwelt­schäd­lich sind. Ich habe nie wirk­lich ver­stan­den, war­um in der Vergangenheit z.B. mehr Subventionen in die Kohle geflos­sen sind als es gekos­tet hät­te, alle dort Beschäftigten bis an ihr Lebensende zu bezah­len! Und selbst konn­te ich mich auch «arbeits­los» immer pro­blem­los beschäf­ti­gen, hat­te da sogar mei­ne poli­tisch aktivs­ten (und sogar wirk­sams­ten!) Zeiten. Aber ich muss akzep­tie­ren, dass das nicht reprä­sen­ta­tiv ist – also fällt mir auch nur ein, mög­lichst viel Unterstützung beim Umstieg und Ausstieg zu leis­ten (=Sozialstaat).

    Was du nicht beschrie­ben hast:
    Insgesamt ist der Handlungsspielraum unse­rer Regierenden sehr viel begrenz­ter als vie­le in der Bevölkerung den­ken! Was da oft für Forderungen kol­por­tiert wer­den, zeigt aus mei­ner Sicht ein mas­si­ves Defizit an poli­ti­scher Bildung. «Merkel muss weg» ist nur das kras­ses­te Beispiel, da gibts Leute, die echt glau­ben, dann wär «alles gut».
    Dass die Politik an Rechtsstaatlichkeit gebun­den ist – was das bedeu­tet und WIE die­se wei­ter ent­wi­ckelt wer­den kann, dar­über scheint wenig bekannt (Juristerei ist Herrschaftswissen, nach wie vor).
    Dass sie dar­über hin­aus ein­ge­bun­den ist in EU-Verträge (und dar­über hin­aus an inter­na­tio­na­les Recht), beschränkt den Handlungsspielraum sehr – und genau das ist ein Punkt, den rechts­ra­di­ka­le Kräfte mit Erfolg auf­grei­fen kön­nen. Polen und Ungarn haben den Anfang gemacht und sich um man­ches nicht geschert, was eigent­lich als EU-NoGo gilt. Was pas­siert? Wenig…
    Erdogan dreht gra­de wie­der durch – aber gibt es nicht immer noch die «Beitrittsperspektive» und ent­spre­chen­de Zahlungen? Ab und an wird da etwas zeit­wei­lig «aus­ge­setzt», wenn ich recht erin­ne­re… schon allein, dass ich (als fast News-Junky) es nicht weiß, spricht Bände!
    Manchmal den­ke ich, eine zwei­stu­fi­ge EU wäre mitt­ler­wei­le bes­ser: eine Kern-EU, die etwas strin­gen­ter agiert – und ande­re drum­her­um, mit denen man sich nicht über alles eini­gen muss. 

    So, erst­mal belas­se ich es dabei, es ist ja schier unmög­lich, zu allem was zu sagen, was du ange­spro­chen hast! (das schreckt ver­mut­lich auch eigent­lich Kommentierwillige ab – lass dich dadurch nicht demo­ti­vie­ren, der Artikel ist super und sehr anregend! 

  3. Was ich noch ganz ver­ges­sen hat­te, aber unbe­dingt zum Thema gehört: Ist Demokratie über­haupt noch als obers­ter poli­ti­scher Wert anzu­se­hen? Was, wenn Demokratie das Nötige nicht mehr lie­fern kann, weil zu weni­ge mitmachen?
    Ich kom­me drauf, weil gera­de auf Twitter eine klei­ne Debatte über «Ökodiktatur» läuft.
    https://​twit​ter​.com/​B​e​r​d​S​a​l​z​/​s​t​a​t​u​s​/​1​3​2​1​4​2​1​0​0​6​6​2​4​4​6​0​801 (plus Kommenare). Beispiel-Argument:
    «Ökodiktatur ist unse­re ein­zi­ge Überlebenschance. Die Maßnahmen, die eigent­lich erfor­der­lich sind, wer­den nie­mals demo­kra­tisch durchgehen.»
    Das nur so als wei­te­re Ergänzung. 

  4. So, Horst, ich habe es end­lich geschafft, den längs­ten Artikel ever™ zu lesen 🙂 Wie Claudia schon schrieb, ist es eigent­lich unmög­lich, auf alle Punkte ein­zu­ge­hen. Aber Du hast Einiges sehr gut herausgearbeitet.

    Als Grundprobleme der Entwicklungen – auch für die Demokratie – , wie sie seit eini­ger Zeit immer stär­ker her­vor­tre­ten, habe ich für mich per­sön­lich haupt­säch­lich 2 Dinge ausgemacht:

    1. Informationsüberflutung und Überkomplexität
    2. Bildungsdefizite

    Die Sozialen Netzwerke (SN) und über­haupt das World Wide Web haben es geschafft, inner­halb weni­ger Jahrzehnte die Informationsvielfalt um meh­re­re Zehnerpotenzen zu ver­viel­fa­chen. Was da an Informationen auf jeden Einzelnen nie­der­pras­selt, ist nicht mehr hand­le­bar und kann nur noch gefil­tert kon­su­miert wer­den. Diese Filter schafft sich ent­we­der jeder selbst oder sie wer­den ihm vom Algorithmus des jewei­li­gen SN vor­ge­ge­ben. Beides hat Nachteile: nicht jeder ist in der Lage, sinn­voll zu fil­tern und lebt in sei­ner Filterbubble – wenn aller­dings der Filter vom Sozialen Netzwerk kommt, ist es genau­so gefähr­lich, denn dann ent­schei­den ande­re, was Du und ich sehen sol­len. Eher schlich­te­re Gemüter kön­nen viel­leicht auch nicht über den Tellerrand hin­aus­schau­en und sind in einer Blase aus Hildmann, AgD, «Merkel muss weg!» und Klimaskeptizismus gefan­gen. Zumal dann noch die ent­spre­chen­den (oft­mals fal­schen) Telegram-Kanäle als media­le Sättigungsbeilage dazukommen.

    Das ist aber nicht nur ein deut­sches Problem, in ande­ren hoch­ent­wi­ckel­ten Industrienationen ist das ähn­lich. Die USA sind da ja mal echt die Krönung, da wur­de der Begriff «Infowars» begrün­det und er fin­det statt, tag­täg­lich. Die Rechtspopulisten in allen Ländern machen sich die­se Fakten-Explosion ger­ne zunut­ze, indem sie ein­fa­che Antworten auf immer kom­ple­xe­re Fragen anbie­ten, die sich aller­dings als kom­plet­te Luftnummer her­aus­stel­len, wenn es um die Wurst geht: was kam von der AgD denn Substanzielles wäh­rend der Corona-Krise? Außer einem Brandtner, der es total OK fin­det, ohne Maske im Zug zu fah­ren und sich auf dem Klo ein­zu­schlie­ßen, wenn die Polizei ihn fra­gen will, was der Scheiß soll. Mehr kommt da nicht. Ach ja, und natür­lich, dass sie grund­sätz­lich «dage­gen» sind. Gegen alles. Gegenvorschläge? Konstruktives? Fehlanzeige.

    Und schon sind wir bei der Komplexität. Was frü­her™ noch über­schau­bar war – man hat Zeitung gele­sen und die Tagesschau geguckt – ist heu­te unüber­sicht­lich und ver­wir­rend. Stündlich ändert sich die Welt und man erfährt davon in Echtzeit. Wo frü­her am Stammtisch, wie Du sehr pas­send geschrie­ben hast, mal die Fetzen geflo­gen sind, weil in der Blöd-Zeitung ein Aufreger-Artikel stand, sind es heu­te Strukturen und Systeme, die nicht mehr ver­stan­den wer­den kön­nen. Zumal nie­mand mehr weiß, wer denn eigent­lich noch «Recht hat». Ist es der Hildmann? Oder doch der Drosten? Gibt es eine Verschwörung im gro­ßen Stil? Oder weiß ein­fach nur nie­mand, wie zu agie­ren ist? (um mal beim Beispiel der Corona-Krise zu blei­ben). Aber kei­ne Sorge: die Blöd-Zeitung und die AgD wis­sen, wie’s geht!

    Dazu kommt die Dummheit der Menschen. Meine Mutter hat­te mal gesagt: «Früher in der Schule konn­te selbst das dümms­te Kind in unse­rer Klasse rich­tig lesen und schrei­ben.» Da ist was dran. Die abso­lu­ten Basics sind heu­te oft nicht vor­han­den, da kann dann auch nichts mehr draus erwach­sen. Die Leute ver­blö­den lei­der immer mehr.

    Jetzt bin ich aber auf das Thema Deines Artikels eigent­lich noch gar nicht ein­ge­gan­gen. Das wer­de ich jetzt nachholen 😉

    Um die Frage aus der Überschrift zu beant­wor­ten: eher nicht. Warum? Weil ich unse­re Demokratie in Deutschland, die nach dem 2. Weltkrieg «designt» wur­de, für ziem­lich resi­li­ent erach­te. Das par­la­men­ta­ri­sche System, die Gewaltenteilung und die Tatsache, dass es kei­nen all­mäch­ti­gen Kanzler oder Präsidenten gibt, sind schon ziem­lich har­te Waffen gegen ein Kapern der Demokratie durch extre­me Kräfte. Die Zustimmungswerte zu den Altparteien™ spre­chen ja auch eine kla­re Sprache. So schlimm kön­nen sie also nicht sein, denn sonst wür­den sie ja nicht gewählt wer­den. Die Extremen am rech­ten Rand haben zwar auch Prozente, aber zum Glück nicht genug, um zu regie­ren. Und das ist auch gut so.

    Wie kön­nen wir die Demokratie stär­ken? In mei­nen Augen durch Bildung und einen gut funk­tio­nie­ren­den Sozialstaat. Denn es war doch schon immer so: arme, kran­ke, arbeits­lo­se und abge­häng­te Menschen wäh­len extre­me oder popu­lis­ti­sche Parteien und Politiker, weil sie auf die Versprechen der Bauernfänger von Reichtum, Geld, Gesundheit und Anerkennung her­ein­fal­len. Siehe Trump und Bolsonaro. Die Realität sieht lei­der anders aus, denn außer blö­den Sprüchen und Großmaulerei kommt da schon wie­der nichts.

    Die Politik soll­te ins­ge­samt ver­bind­li­cher, mensch­li­cher, nach­voll­zieh­ba­rer und kon­se­quen­ter auf­tre­ten. Und ver­su­chen, kom­ple­xe Zusammenhänge ver­ständ­lich zu ver­mit­teln. Hier ist ein­fach Pädagogik gefragt, um Akzeptanz in der Bevölkerung zu errei­chen. Denn nur der, der die Dinge ver­steht, fällt nicht auf Lügen her­ein. Und das geht auch nur, wenn man die Sorgen der Bevölkerung ernst nimmt und bereit ist, in den Dialog zu tre­ten (aber Du weißt ja: man­geln­de Bildung, man­geln­des Interesse, etc. ste­hen dem wie­der ent­ge­gen – da beißt sich die Katze in den Schwanz).

    Zum Schluss noch ein Land, das mei­ner Meinung nach vie­les rich­tig macht: Neuseeland. Hier wur­de Jacinda Ardern mit gro­ßer Mehrheit bestä­tigt, weil sie eine mensch­li­che Politik macht, die außer­dem gut ver­ständ­lich ist. Für mich ist Neuseeland eines der gro­ßen Leuchtfeuer der moder­nen Demokratie.

    Keine Regierung und kei­ne Regierungsform sind per­fekt. Aber die Demokratie ist die mensch­lichs­te Art, zu regie­ren, den­ke ich. Und des­we­gen kann und darf und soll­te man zwar die Prozesse immer wie­der infra­ge stel­len und kri­ti­sie­ren, aber nicht die Demokratie als solche.

    Okay, mei­ne Zeilen hät­ten auch ein eige­ner Blogartikel wer­den kön­nen, so ist es ein Kommentar unter einem wirk­lich her­vor­ra­gen­den Artikel geworden! 🙂 

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