Ein prekärer Text, der Jens Spahn entlasten soll. Oder vielleicht auch nicht.

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Ange­la Mer­kel sag­te am Tag nach der Wahl fol­gen­den Satz: „Ich kann nicht erken­nen, was wir jetzt anders machen müssten“.

Die­se Aus­sa­ge bezog sich ein­deu­tig auf den zurück­lie­gen­den Wahl­kampf und eben nicht auf die zurück­lie­gen­de Regie­rungs­pe­ri­ode. Der „klei­ne Unter­schied“ hat sich im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis nicht nie­der­ge­schla­gen. Das Gegen­teil wird stän­dig kol­por­tiert. So geht das mit Zita­ten, obwohl man die Geschich­te im Inter­net natür­lich nach­le­sen könnte.

Aus­schnitt aus dem Inter­view der „Mor­gen­post“ mit Jens Spahn (CDU):

Mor­gen­post: Sie ärgern sich über Mer­kels Kritik.

Spahn: Ich weiß, Sie suchen nach Schlag­zei­len. Dafür eig­net sich das The­ma aber nicht. Ins­be­son­de­re ärgert mich bei Äuße­run­gen man­cher Sozi­al­de­mo­kra­ten, dass die Maß­stä­be des Sozi­al­sys­tems ver­rut­schen. Die Tafeln tra­gen dafür Sor­ge, dass Lebens­mit­tel nicht weg­ge­wor­fen wer­den. Damit erfül­len sie eine wich­ti­ge Auf­ga­be und hel­fen Men­schen, die auf jeden Euro ach­ten müs­sen. Aber nie­mand müss­te in Deutsch­land hun­gern, wenn es die Tafeln nicht gäbe. Wir haben eines der bes­ten Sozi­al­sys­te­me der Welt.

Mor­gen­post: Reicht Hartz IV zum Leben?

Spahn: Die gesetz­li­che Grund­si­che­rung wird mit ­gro­ßem Auf­wand genau bemes­sen und regel­mä­ßig ange­passt. Hartz IV bedeu­tet nicht Armut, son­dern ist die Ant­wort unse­rer Soli­dar­ge­mein­schaft auf Armut. Die­se Grund­si­che­rung ist akti­ve Armuts­be­kämp­fung! Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht. Mehr wäre immer bes­ser. Aber wir dür­fen nicht ver­ges­sen, dass ande­re über ihre Steu­ern die­se Leis­tun­gen bezahlen.

Quel­le | Jens Spahn: „Hartz IV bedeu­tet nicht Armut“ – Poli­tik – Ber­li­ner Morgenpost

Fan oder nicht

Man muss nicht Fan von Jens Spahn sein, um durch die star­ke Kri­tik, die er mit die­sen Aus­sa­gen aus­ge­löst hat, ins Zwei­feln zu kom­men. Dass Spahn mit 37 Jah­ren schon 20 Jah­re Poli­tik macht, wird ihm nicht posi­tiv ange­rech­net. Die Beur­tei­lung geht oft eher so her­um: „Der hat noch nie wirk­lich gear­bei­tet“. Dass dies nicht ganz rich­tig ist, kann jeder in der Wiki­pe­dia nach­le­sen. Spahn ist ein poli­ti­sches Talent und er hat die­ses bis­her ordent­lich genutzt. Er ver­tritt eine dem Ver­neh­men nach ver­miss­te kon­ser­va­ti­ve Rich­tung inner­halb der CDU. Er steht aber auch für einen moder­nen Poli­ti­ker­ty­pus. Er setzt sich inner­halb einer par­tei­über­grei­fen­den Grup­pe des Par­la­ments für Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit ein. Auf­grund sei­ner lang­jäh­ri­gen Erfah­run­gen im Bereich der Gesund­heits­po­li­tik ist Spahn fach­lich abso­lut ers­te Wahl für das Amt des Gesundheitsministers.

Die sper­ri­gen Argu­men­ta­tio­nen, mit denen Spahn ein ums ande­re Mal aneckt, hal­te ich per­sön­lich für eine gute Eigen­schaft. Etwas weni­ger poli­ti­sche Kor­rekt­heit täte uns wahr­haf­tig gut. Dass Spahn der Atlan­tik-Brü­cke ange­hört und an einer „Bilderberg“-Konferenz teil­ge­nom­men hat, wird vie­len nicht pas­sen. Ich glau­be, ambi­tio­nier­te Poli­ti­ker wer­den ohne sol­che Netz­wer­ke kaum weit kommen.

Zurück zum Auf­re­ger im Interview.

Nein, Herr Spahn, die Tafeln sind nicht dafür gegrün­det wor­den, weil älte­re Lebens­mit­tel einer sinn­vol­len Ver­wen­dung zuge­führt wer­den soll­ten. Jeden­falls nicht vor­ran­gig. Die Grün­dung hat­te sehr wohl mit der schon Anfang der 1990er Jah­re sicht­ba­ren Zunah­me von Armut (Obdach­lo­sig­keit) zu tun.

Gibt es sie nicht – die Armut?

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In Deutsch­land leben rund 15 Mil­lio­nen Men­schen in Armut oder sind unmit­tel­bar von ihr bedroht: vor allem Arbeits­lo­se, Gering­ver­die­ner, Allein­er­zie­hen­de, kin­der­rei­che Fami­li­en und Senio­ren. Wenn das Geld knapp wird, spa­ren die meis­ten bei der Ernäh­rung – zu Las­ten ihrer Gesund­heit. Gleich­zei­tig fal­len täg­lich bei Lebens­mit­tel­pro­du­zen­ten, im Han­del und bei Ver­an­stal­tun­gen gro­ße Men­gen von Lebens­mit­teln an, die – obwohl qua­li­ta­tiv ein­wand­frei – im Wirt­schafts­kreis­lauf nicht mehr ver­kauft wer­den kön­nen. Brot und Back­wa­ren vom Vor­tag und Obst und Gemü­se mit klei­nen Schön­heits­feh­lern eben­so wie Lager­be­stän­de mit nahen­dem Min­dest­halt­bar­keits­da­tum, Sai­son­ar­ti­kel, Über­pro­duk­tio­nen und falsch dekla­rier­te Ware.

LINK – Die Tafeln – Idee
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Einer­seits gebe ich Spahn Recht, wenn er sagt, dass auch ohne die Tafeln in Deutsch­land nie­mand ver­hun­gern wür­de. Ande­rer­seits haben sich die Bedin­gun­gen für vie­le Men­schen seit Beginn der 1990er Jah­re, also seit der Grün­dung der Tafeln, so deut­lich ver­schlech­tert, dass sei­ne Aus­sa­ge nur als Pro­vo­ka­ti­on wahr­ge­nom­men wer­den kann. Mich erin­nert das ein biss­chen an den bizar­ren Ver­such, den Thi­lo Sar­ra­zin vor Jah­ren unter­nom­men hat. Er woll­te Hartz IV-Bezie­hern vor­rech­nen, wie gut man davon leben kön­ne. Für einen Ein-Per­so­nen-Haus­halt, so rech­ne­te Sar­ra­zin damals vor, käme man mit 4,25 Euro für Essen aus. Die­ser Auf­re­ger sorg­te schon 2008 für schlech­te Publi­ci­ty. Dabei hat­te Sar­ra­zin sein berüch­tig­ten Buch „Deutsch­land schafft sich ab“ erst 2010 her­aus­ge­ge­ben. Er behielt sei­ne zwei­fel­haf­te Popu­la­ri­tät und bau­te sie noch aus. Mitt­ler­wei­le liegt das Buch in der 9. Auf­la­ge vor. Das immer-noch SPD-Mit­glied hat eine wach­sen­de Fan­ge­mein­de im rech­ten poli­ti­schen Spektrum.

Armutsrisiko für viele

Wären Men­schen in Deutsch­land, die Hartz 4 bezie­hen, in den letz­ten Jah­ren ver­hun­gert, wir hät­ten davon gehört. Inso­fern ist Spahns Aus­sa­ge unsen­si­bel und er hat sie ver­mut­lich exakt in der Absicht for­mu­liert, den Furor soge­nann­ter Gut­men­schen als Echo zu bekom­men. Frü­her ™ konn­te man schon nicht sicher sein, ob so etwas dafür aus­reicht, um gesell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen anzu­sto­ßen. Heu­te, in Zei­ten kür­zes­ter Empö­rungs­in­ter­val­le, ist das so gut wie ausgeschlossen.

Spahn sag­te: „Hartz IV bedeu­tet nicht Armut, son­dern ist die Ant­wort unse­rer Soli­dar­ge­mein­schaft auf Armut.“ Kennt denn der Ex-Staats­se­kre­tär im Finanz­mi­nis­te­ri­um sol­che Aus­sa­gen nicht?

Ein Armuts­ri­si­ko besitzt bereits, wer mit weni­ger als 60 Pro­zent des durch­schnitt­li­chen Ein­kom­mens aus­kom­men muss. In Deutsch­land liegt dem­nach die Armuts­gren­ze 2013 bei einem Ein­kom­men von rund 940 Euro im Monat. LINK
Wirt­schaft – Gesell­schaft – Pla­net Wissen

Im Regel­satz von 409 Euro /​Monat (2017 für Allein­ste­hen­de) sind Lebens­mit­tel, Klei­dung, Strom, Möbel und Haus­rat nicht ent­hal­ten, eine Erst­aus­stat­tung für ein Baby aller­dings schon. Eine Vor­aus­set­zung für den Bezug von Hartz 4 ist, dass man min­des­tens 3 Stun­den täg­lich arbei­ten kann. Die Grund­si­che­rung (Exis­tenz­mi­ni­mum) im Alter liegt für Allein­ste­hen­de auf dem Hartz 4 – Niveau, sie beträgt also eben­falls 409 Euro /​Monat. Hin­zu kom­men even­tu­ell Beträ­ge für Mie­te, Heiz­kos­ten, gegen­ge­rech­net wer­den evtl. Ren­te, Wohn­geld und sons­ti­ge Einkommen.

Es ist die schlich­te Wahr­heit, wenn Spahn sagt, dass alle Sozi­al­leis­tun­gen unse­res Staa­tes als Ant­wort der Soli­dar­ge­mein­schaft auf dro­hen­de Armut zu ver­ste­hen sind. Es klingt wohl in den Augen der meis­ten Men­schen sehr herz­los, wenn ein finan­zi­ell gut abge­si­cher­ter Poli­ti­ker einen Begriff wie Hartz IV oder die Grund­si­che­rung als „akti­ve Armuts­be­kämp­fung“ beschreibt. Aber hat­te etwas Ähn­li­ches nicht der ehe­ma­li­ge SPD-Chef, Franz Mün­te­fe­ring, mal gesagt? Nicht nur, dass er „stolz“ auf Hartz 4 sei, kam von ihm. In 2010 hat­te er sogar mal gesagt: „Wer nicht arbei­tet, soll auch nicht essen“. Im Febru­ar 2016 hat­te Mün­te­fe­ring gesagt: „Mit 600 Euro Ren­te muss man nicht arm sein“.  Quelle

Münte Sprüche sind auch nicht besser

Ich erin­ne­re mich nicht dar­an, dass die Auf­re­gung über Mün­te­fe­rings Sprü­che auch nur annä­hernd so hys­te­risch durch die Repu­blik waber­ten wie aktu­ell die vom künf­ti­gen Gesund­heits­mi­nis­ter. Wenn Spahn dar­auf hin­weist, dass all die Leis­tun­gen, die wir für die Unter­hal­tung unse­res Sozi­al­staa­tes gebrau­chen (und sie wach­sen wei­ter!) auch von uns allen zunächst ein­mal erwirt­schaf­tet wer­den müs­sen, ist das zwar in den Ohren vie­ler eine uner­wünsch­te Wahr­heit. Aber zutref­fend ist die­se bana­le Aus­sa­ge den­noch, und es wäre gut, wür­den wir uns mit die­sen Fra­gen etwas mehr beschäf­ti­gen. Und damit mei­ne ich nicht, dass über Geflüch­te­te geschimpft wird, weil sie auf­grund ihres Sta­tus „Nutz­nie­ßer“ hie­si­ger Sozi­al­leis­tun­gen wurden.

[symple_​spacing size=„30“]Der Sozi­al­etat wächst und wächst. Jeder kann sich die Ent­wick­lung die­ses neben dem Etat für Ver­tei­di­gung größ­ten Ein­zel­pos­tens unse­res Staats­haus­hal­tes beim Bun­des­amt für Sta­tis­tik oder auf der Web­site des Finanz­mi­nis­ters genau­er anschau­en. Wer die­se Ent­wick­lung aus pro­fes­sio­nel­ler Sicht über Jah­re beglei­tet, wird – schät­ze ich mal – auto­ma­tisch einen kri­ti­sche­ren Blick auf die Fol­gen haben, die die­sem Staat durch sol­che Grö­ßen­ord­nun­gen „auf­ge­bür­det“ wer­den. Wie groß hier­durch auch die Ver­en­gung poli­ti­scher Spiel­räu­me in ande­ren Berei­chen ist, wird uns Steu­er­zah­lern viel­leicht kaum bewusst sein.

Sozialausgaben

Der­je­ni­ge, der uns klar­macht, dass das Geld für unse­ren Sozi­al­staat nicht vom Him­mel kommt, son­dern zunächst ein­mal erwirt­schaf­tet wer­den muss, ist nicht popu­lär. Er war es noch nie. Da spielt auch die Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit kei­ne Rol­le. Als Schrö­der die Agen­da 2010 vor­stell­te, benut­ze er die zur Wort­hül­se ver­kom­me­ne For­mu­lie­rung: „För­dern und for­dern“. Er sprach von einer neu­en Balan­ce zwi­schen per­sön­li­cher Ver­ant­wort­lich­keit und der Hil­fe des Staa­tes. Wir wis­sen – auch durch Fach­leu­te wie den Wirt­schafts­wei­sen, Prof. Bofin­ger, dass nicht die Hartz 4 – Refor­men für den wirt­schaft­li­chen Auf­schwung gesorgt haben, son­dern dass eine Begleit­erschei­nung dafür ver­ant­wort­lich war. Näm­lich, der damit ver­bun­de­ne Druck auf die Löh­ne und Gehäl­ter in Deutsch­land. Eine der damit ver­bun­de­nen Kon­se­quen­zen ist die zuneh­men­de Alters­ar­mut. Wer zu wenig ver­dient, weil Deutsch­land als Bil­lig­lohn­land sei­nes­glei­chen in Euro­pa ein­zig dasteht, hat im Alter das jetzt bejam­mer­te Armuts­ri­si­ko. Die Erfolgs­ge­schich­te der deut­schen Wirt­schaft (Wett­be­werbs­vor­tei­le) basiert auch auf den Fol­gen der schrö­der­schen Agendapolitik.

Spahn sag­te im Inter­view übri­gens auch, dass der Bedarf mit enorm hohem Auf­wand ermit­telt und stän­dig ange­passt wird. Und er sag­te: „Mehr wäre bes­ser“. Damit mein­te er die Höhe der Hartz 4 – Sät­ze bzw. der Grund­si­che­rung. Aber das haben wohl die meis­ten über­le­sen oder in der Auf­re­gung überhört.

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: Arbeitslose FakeNews JensSpahn Wahlkampf

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