HomePolitikEin prekärer Text, der Jens Spahn entlasten soll. Oder vielleicht auch nicht.

Ein prekärer Text, der Jens Spahn entlasten soll. Oder vielleicht auch nicht.

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Die Zeiten ändern sich.

Dieser Beitrag scheint älter als 6 Jahre zu sein – eine lange Zeit im Internet. Der Inhalt ist vielleicht veraltet.

Angela Merkel sagte am Tag nach der Wahl folgenden Satz: „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten“.

Diese Aussage bezog sich eindeutig auf den zurückliegenden Wahlkampf und eben nicht auf die zurückliegende Regierungsperiode. Der „kleine Unterschied“ hat sich im kollektiven Gedächtnis nicht niedergeschlagen. Das Gegenteil wird ständig kolportiert. So geht das mit Zitaten, obwohl man die Geschichte im Internet natürlich nachlesen könnte.

Ausschnitt aus dem Interview der „Morgenpost“ mit Jens Spahn (CDU):

Morgenpost: Sie ärgern sich über Merkels Kritik.

Spahn: Ich weiß, Sie suchen nach Schlagzeilen. Dafür eignet sich das Thema aber nicht. Insbesondere ärgert mich bei Äußerungen mancher Sozialdemokraten, dass die Maßstäbe des Sozialsystems verrutschen. Die Tafeln tragen dafür Sorge, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden. Damit erfüllen sie eine wichtige Aufgabe und helfen Menschen, die auf jeden Euro achten müssen. Aber niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe. Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt.

Morgenpost: Reicht Hartz IV zum Leben?

Spahn: Die gesetzliche Grundsicherung wird mit ­großem Aufwand genau bemessen und regelmäßig angepasst. Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut. Diese Grundsicherung ist aktive Armutsbekämpfung! Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht. Mehr wäre immer besser. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass andere über ihre Steuern diese Leistungen bezahlen.

Quelle | Jens Spahn: „Hartz IV bedeutet nicht Armut“ – Politik – Berliner Morgenpost

Fan oder nicht

Man muss nicht Fan von Jens Spahn sein, um durch die starke Kritik, die er mit diesen Aussagen ausgelöst hat, ins Zweifeln zu kommen. Dass Spahn mit 37 Jahren schon 20 Jahre Politik macht, wird ihm nicht positiv angerechnet. Die Beurteilung geht oft eher so herum: „Der hat noch nie wirklich gearbeitet“. Dass dies nicht ganz richtig ist, kann jeder in der Wikipedia nachlesen. Spahn ist ein politisches Talent und er hat dieses bisher ordentlich genutzt. Er vertritt eine dem Vernehmen nach vermisste konservative Richtung innerhalb der CDU. Er steht aber auch für einen modernen Politikertypus. Er setzt sich innerhalb einer parteiübergreifenden Gruppe des Parlaments für Generationengerechtigkeit ein. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen im Bereich der Gesundheitspolitik ist Spahn fachlich absolut erste Wahl für das Amt des Gesundheitsministers.

Die sperrigen Argumentationen, mit denen Spahn ein ums andere Mal aneckt, halte ich persönlich für eine gute Eigenschaft. Etwas weniger politische Korrektheit täte uns wahrhaftig gut. Dass Spahn der Atlantik-Brücke angehört und an einer „Bilderberg“-Konferenz teilgenommen hat, wird vielen nicht passen. Ich glaube, ambitionierte Politiker werden ohne solche Netzwerke kaum weit kommen.

Zurück zum Aufreger im Interview.

Nein, Herr Spahn, die Tafeln sind nicht dafür gegründet worden, weil ältere Lebensmittel einer sinnvollen Verwendung zugeführt werden sollten. Jedenfalls nicht vorrangig. Die Gründung hatte sehr wohl mit der schon Anfang der 1990er Jahre sichtbaren Zunahme von Armut (Obdachlosigkeit) zu tun.

Gibt es sie nicht – die Armut?

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In Deutschland leben rund 15 Millionen Menschen in Armut oder sind unmittelbar von ihr bedroht: vor allem Arbeitslose, Geringverdiener, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Senioren. Wenn das Geld knapp wird, sparen die meisten bei der Ernährung – zu Lasten ihrer Gesundheit. Gleichzeitig fallen täglich bei Lebensmittelproduzenten, im Handel und bei Veranstaltungen große Mengen von Lebensmitteln an, die – obwohl qualitativ einwandfrei – im Wirtschaftskreislauf nicht mehr verkauft werden können. Brot und Backwaren vom Vortag und Obst und Gemüse mit kleinen Schönheitsfehlern ebenso wie Lagerbestände mit nahendem Mindesthaltbarkeitsdatum, Saisonartikel, Überproduktionen und falsch deklarierte Ware.

LINK – Die Tafeln – Idee
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Einerseits gebe ich Spahn Recht, wenn er sagt, dass auch ohne die Tafeln in Deutschland niemand verhungern würde. Andererseits haben sich die Bedingungen für viele Menschen seit Beginn der 1990er Jahre, also seit der Gründung der Tafeln, so deutlich verschlechtert, dass seine Aussage nur als Provokation wahrgenommen werden kann. Mich erinnert das ein bisschen an den bizarren Versuch, den Thilo Sarrazin vor Jahren unternommen hat. Er wollte Hartz IV-Beziehern vorrechnen, wie gut man davon leben könne. Für einen Ein-Personen-Haushalt, so rechnete Sarrazin damals vor, käme man mit 4,25 Euro für Essen aus. Dieser Aufreger sorgte schon 2008 für schlechte Publicity. Dabei hatte Sarrazin sein berüchtigten Buch „Deutschland schafft sich ab“ erst 2010 herausgegeben. Er behielt seine zweifelhafte Popularität und baute sie noch aus. Mittlerweile liegt das Buch in der 9. Auflage vor. Das immer-noch SPD-Mitglied hat eine wachsende Fangemeinde im rechten politischen Spektrum.

Armutsrisiko für viele

Wären Menschen in Deutschland, die Hartz 4 beziehen, in den letzten Jahren verhungert, wir hätten davon gehört. Insofern ist Spahns Aussage unsensibel und er hat sie vermutlich exakt in der Absicht formuliert, den Furor sogenannter Gutmenschen als Echo zu bekommen. Früher ™ konnte man schon nicht sicher sein, ob so etwas dafür ausreicht, um gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Heute, in Zeiten kürzester Empörungsintervalle, ist das so gut wie ausgeschlossen.

Spahn sagte: „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut.“ Kennt denn der Ex-Staatssekretär im Finanzministerium solche Aussagen nicht?

Ein Armutsrisiko besitzt bereits, wer mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens auskommen muss. In Deutschland liegt demnach die Armutsgrenze 2013 bei einem Einkommen von rund 940 Euro im Monat. LINK
Wirtschaft – Gesellschaft – Planet Wissen

Im Regelsatz von 409 Euro / Monat (2017 für Alleinstehende) sind Lebensmittel, Kleidung, Strom, Möbel und Hausrat nicht enthalten, eine Erstausstattung für ein Baby allerdings schon. Eine Voraussetzung für den Bezug von Hartz 4 ist, dass man mindestens 3 Stunden täglich arbeiten kann. Die Grundsicherung (Existenzminimum) im Alter liegt für Alleinstehende auf dem Hartz 4 – Niveau, sie beträgt also ebenfalls 409 Euro / Monat. Hinzu kommen eventuell Beträge für Miete, Heizkosten, gegengerechnet werden evtl. Rente, Wohngeld und sonstige Einkommen.

Es ist die schlichte Wahrheit, wenn Spahn sagt, dass alle Sozialleistungen unseres Staates als Antwort der Solidargemeinschaft auf drohende Armut zu verstehen sind. Es klingt wohl in den Augen der meisten Menschen sehr herzlos, wenn ein finanziell gut abgesicherter Politiker einen Begriff wie Hartz IV oder die Grundsicherung als „aktive Armutsbekämpfung“ beschreibt. Aber hatte etwas Ähnliches nicht der ehemalige SPD-Chef, Franz Müntefering, mal gesagt? Nicht nur, dass er „stolz“ auf Hartz 4 sei, kam von ihm. In 2010 hatte er sogar mal gesagt: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“.  Im Februar 2016 hatte Müntefering gesagt: „Mit 600 Euro Rente muss man nicht arm sein“.  Quelle

Münte Sprüche sind auch nicht besser

Ich erinnere mich nicht daran, dass die Aufregung über Münteferings Sprüche auch nur annähernd so hysterisch durch die Republik waberten wie aktuell die vom künftigen Gesundheitsminister. Wenn Spahn darauf hinweist, dass all die Leistungen, die wir für die Unterhaltung unseres Sozialstaates gebrauchen (und sie wachsen weiter!) auch von uns allen zunächst einmal erwirtschaftet werden müssen, ist das zwar in den Ohren vieler eine unerwünschte Wahrheit. Aber zutreffend ist diese banale Aussage dennoch, und es wäre gut, würden wir uns mit diesen Fragen etwas mehr beschäftigen. Und damit meine ich nicht, dass über Geflüchtete geschimpft wird, weil sie aufgrund ihres Status „Nutznießer“ hiesiger Sozialleistungen wurden.

[symple_spacing size=“30″]Der Sozialetat wächst und wächst. Jeder kann sich die Entwicklung dieses neben dem Etat für Verteidigung größten Einzelpostens unseres Staatshaushaltes beim Bundesamt für Statistik oder auf der Website des Finanzministers genauer anschauen. Wer diese Entwicklung aus professioneller Sicht über Jahre begleitet, wird – schätze ich mal – automatisch einen kritischeren Blick auf die Folgen haben, die diesem Staat durch solche Größenordnungen „aufgebürdet“ werden. Wie groß hierdurch auch die Verengung politischer Spielräume in anderen Bereichen ist, wird uns Steuerzahlern vielleicht kaum bewusst sein.

Sozialausgaben

Derjenige, der uns klarmacht, dass das Geld für unseren Sozialstaat nicht vom Himmel kommt, sondern zunächst einmal erwirtschaftet werden muss, ist nicht populär. Er war es noch nie. Da spielt auch die Parteizugehörigkeit keine Rolle. Als Schröder die Agenda 2010 vorstellte, benutze er die zur Worthülse verkommene Formulierung: „Fördern und fordern“. Er sprach von einer neuen Balance zwischen persönlicher Verantwortlichkeit und der Hilfe des Staates. Wir wissen – auch durch Fachleute wie den Wirtschaftsweisen, Prof. Bofinger, dass nicht die Hartz 4 – Reformen für den wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt haben, sondern dass eine Begleiterscheinung dafür verantwortlich war. Nämlich, der damit verbundene Druck auf die Löhne und Gehälter in Deutschland. Eine der damit verbundenen Konsequenzen ist die zunehmende Altersarmut. Wer zu wenig verdient, weil Deutschland als Billiglohnland seinesgleichen in Europa einzig dasteht, hat im Alter das jetzt bejammerte Armutsrisiko. Die Erfolgsgeschichte der deutschen Wirtschaft (Wettbewerbsvorteile) basiert auch auf den Folgen der schröderschen Agendapolitik.

Spahn sagte im Interview übrigens auch, dass der Bedarf mit enorm hohem Aufwand ermittelt und ständig angepasst wird. Und er sagte: „Mehr wäre besser„. Damit meinte er die Höhe der Hartz 4 – Sätze bzw. der Grundsicherung. Aber das haben wohl die meisten überlesen oder in der Aufregung überhört.

Artikelinformationen:

Politik

Arbeitslose, Fake News, Jens Spahn

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