Kein Thema zum Nachdenken?

Warum gilt eigentlich der alte Sponti-Spruch: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, nicht mehr? Rio Reiser wusste damals noch nichts von den asozialen Netzwerken.

5 Min.

Schwierig, diese Zeiten. Ich weiß nicht mehr: soll ich mich überhaupt noch zu diesem Thema äußern oder würde auch dies Anlass zur Kritik geben? Nicht, dass ich erwarten würde, dass sie sich hier im Blog niederschlagen würde. Dagegen spricht die Erfahrung, ein wenig auch die Einigelung in der sprichwörtlichen und schon legendären Blase. Damit wären wir dann beim Thema.

Dabei ist diese Möglichkeit doch einer der Vorteile, die uns dieses Internet verschafft hat. Ich weiß noch, was man sich alles von den neuen Medien verprochen hat. Das gabs nie, höchstens das Gefühl zu Beginn, als die Väter solcher Tools wie Twitter, Facebook etc. noch nicht erkennbar andere Absichten hegten als dem gemeinen User Wege zur freien Meinungsäußerung zu ebnen.

Mehr Demokratie wagen? Hatte Willy Brandt das wohl gemeint, als er Anfang der 1970-er Jahre diese drei Worte zum Wahlkampfslogan machte?

„Die diskursive Überspitzung ist obszön im Angesicht dessen, was die Menschen vor Ort gerade erleben.“

Eva Menasse

Überspitzung ist ein Wort, dass mir in diesem Zusammenhang nicht auf Anhieb eingefallen wäre. Es stammt aus einem etwa einstündigen Podcast von der »Zeit«. Darin ging es um Israel. Eva Menasse hat es gesagt.

Die Klassifizierung dürfte für so ziemlich alle Themen gelten, die in diesen aufgeregten Zeiten in der Öffentlichkeit verhandelt werden. Gut, das mag jetzt übertrieben sein. Allerdings ist es im Moment auch besonders schlimm, da draußen.

Eva Menasse hat sich dankenswerterweise mit den sozialen Medien beschäftigt und ihre Erkenntnisse und Ansichten in einem literarischen Essay zusammengefasst – Titel: Alles und nichts sagen: Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne.

Ich musste einsehen, dass das intellektuelle Niveau meine Fähigkeit zumindest in Teilen überstiegen hat. Ich habe nicht alles verstanden. Und das, obwohl ich das Hörbuch gekauft habe. Vielleicht hätte ich doch das Buch kaufen sollen?

Die grundsätzliche Bewertung, darf ich glaube ich sagen, liegt ganz auf meiner Linie. Frau Menasse drückt sich Gott sei Dank anders aus als ich es überhaupt könnte. Sie steigt sehr viel tiefer in die Materie ein, beschränkt sich nicht, wie ich hier, aufs Schimpfen. Zu meiner Entschuldigung will ich noch einmal sagen, dass mich zu viele Themen emotional so stark anfassen, dass ich zum Überziehen neige und – wohl aus Unsicherheit – an dieser oder jener Stelle ausufere. Wohl auch in der Sorge missverstanden werden zu können.

Zieht sich eine liberale Gesellschaft gerade den Boden weg, auf dem sie fest stehen sollte? Ein Essay darüber, was die digitale Massenkommunikation zwischenmenschlich anrichtet.

Nichts hat das Zusammenleben so umfassend verändert wie die Digitalisierung – wir denken, fühlen und streiten anders, seit wir dauervernetzt und überinformiert sind. Die Auswirkungen betreffen alle, egal, wie sehr sie die neuen Medien überhaupt nutzen. Es ist ein Stresstest für die Gesellschaft: Der Überfluss an Wissen, Geschwindigkeit, Transparenz und Unlöschbarkeit ist, unkanalisiert, kein Wert an sich.

Demokratiepolitisch bedeutsam wird dies bei der vielbeschworenen Debattenkultur. Denn die Umgangsformen der sogenannten Sozialen Medien haben längst auf die anderen Arenen übergegriffen, Politik und Journalismus spielen schon nach den neuen, erbarmungsloseren Regeln. Früher anerkannte Autoritäten werden im Dutzend abgeräumt, ohne dass neue nachkommen, an die Stelle des besseren Arguments ist die knappe Delegitimierung des Gegners getreten. Eine funktionierende Öffentlichkeit – als Marktplatz der Meinungen und Ort gesellschaftlicher Klärung – scheint es, wenn überhaupt, nur noch in Bruchstücken zu geben.

In ihrem Essay kreist Eva Menasse um die Fragen, die sie seit vielen Jahren beschäftigen: vor allem um einen offenbar hoch ansteckenden Irrationalismus und eine ätzende Skepsis, vor denen niemand gefeit ist.

Um mich geht es dabei ja überhaupt nicht. Hinter dieser Erkenntnis steckt auch ein wenig Menasse.

Ich identifizierte mich als Teil der Zielgruppe.

Ein Aspekt, den ich zwar kenne, aber geflissentlich überhöre, ist die Isolation durch zu viel Internet-Zeit. Was wir unseren Kindern, in unserem Fall unserem Großneffen und unserer Großnichte predigen, gilt natürlich nicht für mich. Mein Rechner verrät mir auf Wunsch, wie viel Zeit ich mit ihm verbracht habe. Massenhaft viel. Ich gehöre zu denen, die alles mitnehmen. Möglichst auch jede Talkshow. Dass ich mich fast immer dabei ärgere, hält mich nicht ab. Es ist ja so, dass im Suchtkontext einiges ähnlich funktioniert.

Man wird eben älter und im »Tagesspiegel« schrieb Sabine Rennefanz gerade erst, wie der Freundschaftsschrumpf schon mit ungefähr 50 eingesetzt hat. Das Wort muss sie eigens kreiert haben. Ich glaube, dass das Internet eine Rolle spielen wird, soziale Kontakte nicht völlig veröden zu lassen. Das wäre ein Widerspruch. Aber nur insofern, als es nicht übertrieben werden darf, denn es gilt nun einmal auch hier: Die Menge macht auch hier das Gift.

Es macht an dieser Stelle wenig Sinn, die tiefgreifenden, umfassenden Gedanken von Frau Menasse aufzuarbeiten oder interessante Zitate herauszupicken und diese hier einzufügen.

Sie hat so recht!

Mir liegt daran, dass die am Thema Interessierten auf diesem Weg den Hinweis erhalten, dass sich ein sehr kluger Mensch viele Gedanken um das Thema gemacht hat.

Illusionen mache ich mir keine. So wie ich mein Verhalten im Hinblick auf die Droge Internet nicht zu ändern bereit bin, wird es bei den allermeisten dieser Spezies sein. Auch nach der Lektüre des Essays.

Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

alleiniger Autor dieses Blogs

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

hs010225 a

Medien

Demokratie, Deutschland, Kultur, Soziale Netzwerke, Wahlkampf

Quelle Featured-Image: HorstSchulte.com...

Letztes Update:

414 Views
Anzahl Worte im Beitrag: 890
Your Mastodon Instance
Share to...