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Wir haben gewählt und wählen nicht mehr!

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von Horst Schulte

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Wenn sich viele Deutsche mit Bratwurst, alternativ mit Kaffee und Kuchen zum Impfen animieren lassen, mag ich mir nicht ausmalen, welche trivialen Gründe viele haben, irgendwo ihr Kreuzchen auf dem Wahlschein zu machen.

Irgendein Schlaumeier begründete dieses lächerliche Verhalten (das mit der Bratwurst!) damit, dass nur derjenige diese Handlungsweise kritisieren könne, der Armut aus eigener Erfahrung kenne. Das soll auch heißen, dass sich viele Leute schon so krass in ihrer Armut eingerichtet hätten, dass sie reflexartig reagieren, um ein paar milde Gaben abzugreifen?

Abgesehen mal davon, erinnert mich das an das Bild von der Möhre, die man dem Esel vor die Nase bindet, um ihn anzuspornen, wenigstens ein paar Meter zu laufen.

Tarnen sich Impfskeptiker als arm und lassen sich am Ende doch durch ein paar Euro oder eine warme Mahlzeit „überzeugen“? Wir wären so was von im Arsch! Mich erinnert das auch an die wahnwitzigen Aussagen einiger Aktivisten, die Weißen das Recht absprechen überhaupt nur über Rassismus zu reden. Grund: Sie als Weiße haben ja Zeit ihres Lebens keinerlei Erfahrungen mit Rassismus gemacht. Lesen wir es positiv: Die Kartoffel ist durch und durch rassistisch, weiß es aber gar nicht.

Ich gehe dieses Jahr zum ersten Mal nicht wählen, meine Frau auch nicht. Wir haben noch immer brav unsere Kreuzchen auf den Stimmzetteln gemacht und uns – anders als viele andere, mit der Abwägung der jeweils vorhandenen Alternativen buchstäblich herumgequält. Mal haben „wir“ gewonnen, mal verloren. Als Traditionswähler der SPD ist die Bilanz sehr mau.

Unsere Entscheidung hat nicht nur damit zu tun, dass wir das Personal der überhaupt infrage kommenden Parteien nicht überzeugend finden, auch nichts mit den Parteiprogrammen, die ich zum Teil tatsächlich gelesen habe. Danach müsste ich die Grünen wählen.

Uns hat das sich entwickelnde gesellschaftliche Klima bewogen, unsere Entscheidung zu treffen, vorerst nicht mehr zur Wahl zu gehen. Ich bin über die Erfahrungen der letzten Jahre zum Misanthropen avanciert. Meine Standpunkte sind zu allen möglichen wichtigen Fragen ambivalent. Ich könnte es auch so ausdrücken, dass mich die Argumente in allen möglichen Fragen nicht mehr überzeugen. Meine Skepsis wächst fast so schnell wie meine Ungeduld. Mein Vertrauen in das, was Politik macht, war schon lange angeknackst. Jetzt ist es verbraucht.

Es war vielleicht immer so, dass Politiker einen äußerst begrenzten Horizont haben. Aber richtig schmerzhaft hat sich das während Corona und davor bereits auf dem Feld des Klimawandels gezeigt. Dagegen scheinen Gerechtigkeitsdebatten, Sozialstaatsoffensiven oder die so dringend nötige Rentenreform noch die kleineren Probleme. Seit den 1970-er Jahren wussten wir, dass die demografische Entwicklung unser Rentensystem überfordern wird. Fünfzig Jahre später flickschustert die Politik weiter am System herum.

Der Club of Rome hat Anfang der 1970-er Jahre, begleitet und gefolgt von Appellen einer wachsenden Zahl von Wissenschaftlern in den zurückliegenden Jahrzehnten vor dem Klimawandel bzw. der Ressourcenverschwendung durch die Menschheit gewarnt und Korrekturen gefordert. Die Politik war nicht imstande, die nötigen Schritte durchzuführen. Gar nicht mal deshalb, weil das Verantwortungsbewusstsein nicht vorhanden gewesen wäre oder die nötige Einsicht gefehlt hätte. Nein, man wollte ja Wahlen gewinnen, damit man zunächst einmal die erforderlichen Optionen (Gestaltungsmacht) in die Hand bekäme.

Viel schlimmer als das politische Versagen beurteile ich aber die manipulative Kraft der Medien, die sich seitdem das Internet eine Rolle in Informationsbeschaffung und in der Kommunikation spielt, zu einem gefährlichen und mächtigen, vor allem in Teilen verantwortungslosen Akteur innerhalb unserer Gesellschaften entwickelt hat.

Man darf es lächerlich finden, dass ausgerechnet unsere Medien darüber klagen, dass der laufende Bundestagswahlkampf von oberflächlichen Dingen (Lebensläufe, falsche Zitate, fehlende Quellenangaben, falsche Abrechnungen und dgl.) bestimmt wird. Wer prägt denn mit unzähligen Beiträgen und Berichten die Debatten im Land? Welchen Anteil an der Verwirrung dieser Gesellschaft haben wohl die Medien zu verantworten, nicht die Politik? Selbst im WDR Regionalfernsehen werden ständig die gleichen Themen aufgemacht. Es wird kaum über politische Themen berichtet, sondern fast nur über solche, die möglichst emotionale Wirkungen bei den Zuschauern versprechen. Das ist zum Kotzen, und ich stelle mir unter diese Art von Plattheiten in Dauerschleife nicht das vor, was der mit unseren Gebühren teuer bezahlte Auftrag der Rundfunkanstalten ist.

Ich wähle nicht mehr. Die Ammenmärchen, dass meine Stimme radikalen Parteien zugutekäme, mögt ihr bitte stecken lassen. Wahr ist vielmehr, dass Nichtwählerstimmen aus schlichten Gründen der Mathematik den großen Parteien zugutekommen, nicht irgendwelchen Rechts- oder Linksextremen. Insofern verhält es sich nicht anders, als bei der Abgabe von ungültigen Stimmen. In unserer Demokratie gibt es das Wahlrecht aber keine Wahlpflicht. Das ist gut und meine Frau und ich machen unserem Frust Luft und sagen: DAS WAR’S. Wir haben genug von diesem Mist, dem Unvermögen und den Lügen, über die wir viel zu lange hinweggesehen haben.

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9 Gedanken zu „Wir haben gewählt und wählen nicht mehr!“

  1. Was ist dran an dem Spruch „jede Gesellschaft hat die Regierung, die sie verdient“ ?

    Das ist mir eingefallen angesichts deiner Klage über mangelnde Konsequenz angesichts der Klima-Warnungen seit den 70gern – und ganz ebenso seit der Rente.

    Auf dem Höhepunkt der Skandalisierung der Arbeitsbedingungen der grade in Corona-Zeiten so ungemein „systemrelevanten“ Pflegekräfte habe ich mal ausgerechnet, wieviel Pi-mal-Daumen der KK-Beitrag steigen müsste, um die Pflegenden besser zu bezahlen. Ich erinnere das Ergebnis nicht genau, es war nicht sehr dramatisch, aber spürbar.

    Und obwohl auf Twitter gerade Mega-Wellen der Empörung und viel mediales „Klatschen“ durchliefen, fand mein Vorschlag kaum Beachtung und nur Ablehnung: Da solle doch erstmal anderswo gespart werden, bei den Ärzten, bei den Medikamenten und und und..

    So ist es bei jedem großen Thema: Rentenanpassung? Dürfen niemals sinken… Länger arbeiten? Bewahre, der arme Dachdecker! Weniger Eigenheime bauen wg. Klimawandel? Böse böse Verbotsdiskussion! Einschränkungen des Autoverkehrs? Aber unsere Freiheit! Mehr Windräder? Bitte nicht in meiner Nähe…

    Was sollen die Politiker/innen da machen, wenn sie wieder gewählt werden wollen?
    Immerhin hat sich seit den „Grenzen des Wachstums“ in den 70gern etwas getan: Die Grünen sind entstanden, weil die anderen Parteien das Thema eher ignorieren wollten – und bei der Wahl 2021 werden sie voraussichtlich das beste Ergebnis ever haben. Nämlich mehr als verdoppelt gegenüber 2013 und 2017.

    Da hat sich also was bewegt in der Gesellschaft. Und es wird einen Unterschied machen, ob die Grünen an der Regierung beteiligt sind oder ob die CDU mit der FDP die Linie vorgibt (und die SPD brav mitmacht…).
    Gegenüber dem Klimathema sind Stolpersteine wie „gendern“ oder selbst bei den Grünen randständige Meinungen bzgl. „alle Flüchtlinge aufnehmen“ nur Marginalien.

    In diesem TAZ-Artikel wird mal aufgezeigt, was für radikale Veränderungen in Südeuropa (das derzeit brennt) anstehen – wir werden hier Klimaflüchtlinge aus der EU bekommen!

    Ok, ich respektiere natürlich deinen Standpunkt, finde ihn nur schade! Wir haben ja nicht so sehr viele Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen – das Wählen ist und bleibt dabei SEHR relevant.

  2. Viele sind einfach so. Manche reden sich das schön, in dem sie von der Armut im Land daherreden. Natürlich gibt es die. Aber ob jemand, der arm ist, auch blöd sein muss? Das anzunehmen, unterstelle ich denen, die soziale Verwerfungen als Begründung für ihr merkwürdiges Impfverhalten sehen.

  3. Siehste, du sagst es selbst. Wir Menschen sind zu blöd, unsere Chancen wahrzunehmen. Wir sind eher interessiert, dass alles so bleibt wie es ist. Wehe, die Preise steigen oder der Urlaub fällt aus. Dann drehen sie durch.

    Und anderen gönnen sie nicht das Schwarze unterm Fingernagel.

    Wir müssen so viele Sachen anders machen, das einem der Kopf schwirrt, wenn man nur anfängt darüber nachzudenken. Und das mit diesen Politikern? Aber wir haben keine anderen. Das ist wahr. Insofern kriegen wir halt die, die wir verdienen.

    Gestern habe ich zum wiederholten einer Expertin für Städtebau und -Entwicklung aufmerksam zugehört. Was alles geschehen muss, allein um unsere Städte (da gibts auch noch nicht urbane Regionen…) einigermaßen auf das vorzubereiten, was der Klimawandel eigentlich verlangen würde. Alles gut argumentiert und plausibel erklärt. Aber welche Regierung (die Grünen?) würde das schon mit all den damit verbundenen Kosten wagen? Die Frau (Name habe ich leider gerade nicht präsent) sprach immer von koordinierten Maßnahmen. Auch das macht Sinn. Aber wer könnte solche Koordinationsleistungen erbringen? Unsere Verwaltungen sicher nicht. Die sind mit dem, was heute nötig wäre, schon dreimal überfordert.

    Die Grünen werden ihr Wahlergebnis kriegen. Das finde ich auch gut so. Es könnte ruhig zur Regierungsbildung und damit auch zur Kanzlerin reichen, wenn es nach mir ginge. Aber die Konservativen und die noch weiter rechts werden das schon verhindern.

    Aber die Linken (SPD mal als Linke) machen es nicht besser. Wir brauchen ein höheres Renteneintrittsalter, weil das nicht mehr zusammengeht. Wir werden nun einmal immer älter. Also müssen wir länger arbeiten. Dass man Berufsgruppen ausschließt, wäre doch i.O. Aber sich darauf zu verständigen, wäre ja aufwendig und unbequem. Deshalb hat man die Rente mit 63 eingeführt. Wir brauchen gerade bei den Renten mehr Flexibilität. Aber was die FDP darunter versteht, brauchen wir definitiv nicht! Keine private Vorsorge unter solchen Voraussetzungen. Dazu muss zuerst einmal der Grundsatz Realität werden, der besagt, dass man von einem Job auch anständig leben können muss. Dann kann man über private Vorsorge reden. Wir brauchen allgemeinverbindliche Tarifverträge (also auch für die, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind und die nicht Mitglied eines Arbeitgeberverbandes sind).

    Vielleicht brauchen wir zuerst einmal mehr Offenheit in unseren Debatten. Diese ständigen gegenseitigen Vorgaben, was man sagen kann und was nicht, müssen endlich aufhören. Uns fehlt es definitiv an offenen Kontroversen. Nur so finden wir Lösungen, von denen wir hoffen können, die wahnsinnig großen Herausforderungen auch bewältigen zu können. Ich sehe das nicht. Schau auf den Wahlkampf. Und genau die, die das verursachen (die Medien) klagen darüber am lautesten. Ernsthaft.

  4. „Natürlich gibt es die. Aber ob jemand, der arm ist, auch blöd sein muss?“
    Das ist nicht nur die Annahme jedes deutschen Bildungssystems.
    Der Satz bildet ohne Fragestellung die Reinkarnation Deutschlands, seit es ein Deutschland gibt.

  5. Immerhin kämpfen wir was das anlangt permanent mit uns. Die Einstellung zum Deutschen ist ueber Generationen hinweg doch ganz schoen kritisch geblieben. Bloß geholfen hat es bei wichtigen Entscheidungen wenig bis nichts.

  6. Mein Vertrauen in das, was Politik macht, war schon lange angeknackst. Jetzt ist es verbraucht.

    Stimmt.
    Gestern in der arte mediathek „die erdzerstörer“ gesehen !
    Da war vollkommen unaufgeregt das zu sehen, was Menschen seit 250 Jahren wissentlich und willentlich machen.
    Und wie L. Kürzlich meinte: dafür ist jetzt keine Zeit!

  7. Das geschieht leider nicht nur hier. Eigentlich ist das ja auch das Problem. Überall lernen und wissen die Menschen immer mehr. Aber sie verstehen nicht, was nun passieren müsste. Und die Politik traut sich nicht wirklich, uns reinen Wein einzuschenken. Die Grünen, vornweg Habeck, ausgenommen.

  8. Da sind Insekten schlauer. Einen Kleinfalter kannst Du zweimal aufscheuchen, dann sucht er sich weiter weg ein neues Revier.

Kommentare sind geschlossen.

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