Gerichte beschützen die Demokratie (?) und überstimmen politische und wissenschaftliche Entscheidungen

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Ich erin­ne­re mich noch an den April die­ses Jah­res, als das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt der Ver­fas­sungs­be­schwer­de gegen das Kli­ma­schutz­ge­setz der Regie­rung teil­wei­se statt­gab. Die Reak­tio­nen waren zum Teil bizarr. Aber nicht nur die von Regie­rungs­mit­glie­dern, die sich über die­se „Nie­der­la­ge“ zu freu­en schie­nen. Es gab eini­ge, dar­un­ter auch Jour­na­lis­ten, die denen zustimm­ten, die die Gerichts­ent­schei­dung kri­tisch sahen. Bei einem Urteil mit so weit­rei­chen­den Fol­gen ist das nachvollziehbar.

Habe ich eigent­lich allein das Gefühl, dass unter den Leu­ten, die die Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes nicht opti­mal fan­den, jetzt auch die zu fin­den sind, die die Urtei­le von OVG-Gerich­ten vor Kri­ti­kern in Schutz neh­men? Mont­go­me­ry ist ein streit­ba­rer Mann. Er sagt mit­un­ter Sachen, die ich rich­tig gut fin­de und manch­mal auch sol­che, die mir die Nacken­haa­re aufstellen. 

Dies­mal hat sich der Welt­ärz­te­bund­chef dazu ver­stie­gen, Rich­ter dafür zu kri­ti­sie­ren, dass sie Coro­na-Maß­nah­men (2G-Regel) „kas­siert“ haben. Er sprach in die­sem Zusam­men­hang ein wenig despek­tier­lich von „klei­nen Rich­ter­lein“, die es erlaubt hät­ten, in müh­sa­men Kom­pro­mis­sen erreich­te Maß­nah­men zu kip­pen. So sei­ne sinn­ge­mä­ße Aussage. 

Ich fin­de, der Mann hat recht. Wenn ein Gericht sich dazu ermäch­tigt sieht, die in schwe­ren Not­la­gen getrof­fe­nen Kom­pro­mis­se zwi­schen Poli­tik und Wis­sen­schaft zu kip­pen, weil es die Beschlüs­se für unver­hält­nis­mä­ßig hält, ist das schwer­wie­gend. Darf ein Gericht es sich anma­ßen, eine (juris­ti­sche) Exper­ti­se, der ande­rer Fach­be­rei­che (Medi­zin, Wis­sen­schaft) vor­zu­zie­hen und schluss­end­lich die eige­ne höher zu gewich­ten? Dabei ist kei­nes­falls in Abre­de gestellt, dass die Prü­fung der Sach­ver­hal­te und die fol­gen­de Ent­schei­dung mit gro­ßer Sorg­falt und eben­falls nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen (und geset­zes­kon­form) erfolgt. 

Das ist aber nicht alles, was mich an der hef­ti­gen Kri­tik an Mont­go­me­ry stört. Ich füh­le mich nicht beru­fen, in die­ser Aus­ein­an­der­set­zung die rich­ti­ge Ant­wort geben zu kön­nen. Eins ist aber klar. Die Juris­ten soll­ten aus mei­ner Sicht nicht das letz­te Wort haben! 

Wenn ich Bun­des­tags­vi­ze Kubicki, FDP, zuhö­re, ver­geht mir alles. Er und man­che sei­ner Par­tei­gän­ger erzeu­gen das Gefühl, als sei­en die Maß­nah­men gegen Coro­na von juris­ti­schen Spitz­fin­dig­kei­ten und von der Durch­set­zung einer bestimm­ten (juris­ti­schen oder poli­ti­schen?) Posi­ti­on abhängig. 

  1. Nor­bert Lam­mert kri­ti­siert Kli­ma­be­schluss des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts – WELT
  2. Ver­fas­sungs­recht­ler kri­ti­siert Karls­ru­her Kli­ma-Urteil | evan​ge​lisch​.de
  3. Das Kli­ma-Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ist ledig­lich gut gemeint Han​dels​blatt​.com
  4. Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt zum Kli­ma­schutz: Die Welt ist nicht genug faz​.net

Wie kann es sein, dass der Bun­des­tag per­so­nell immer wei­ter wächst und die Kom­pe­tenz sei­ner Mit­glie­der so abnimmt? Es darf doch nicht dazu kom­men, dass Gerich­te poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen in Serie kip­pen und ver­ab­schie­de­te Geset­ze zu Fall bringt. Dass Poli­tik sich damit abzu­fin­den scheint (Reak­ti­on der dama­li­gen Regie­rung auf die Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes), dass Ver­fas­sungs­be­schwer­den ein ums ande­re Mal erfolg­reich ver­lau­fen, darf nicht die Zukunft sein. Wir haben das schon zu oft erlebt.

Dass nun auch regio­na­le Gerichts­hö­fe die müh­sam errun­ge­nen Kom­pro­mis­se, die unter Pan­de­mie­be­din­gun­gen aus­ge­foch­ten wur­den, kip­pen, mögen man­che beklat­schen. Ich fin­de das höchst bedenk­lich. Es stärkt nicht die Demo­kra­tie, wie uns Leu­te wie Kubicki und Co. weis­ma­chen wol­len. Rich­ter wer­den nicht gewählt. Wenn sie unter Ver­weis auf bestehen­de Geset­ze demo­kra­tisch legi­ti­mier­te Ent­schei­dun­gen (nicht nur in Aus­nah­me­fäl­len) außer Kraft set­zen, hal­te ich das für bedenklich. 

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

12 Gedanken zu „Gerichte beschützen die Demokratie (?) und überstimmen politische und wissenschaftliche Entscheidungen“

  1. Gerhard 246 28. Dezember 2021 um 00:42

    Ich habe das die letz­te Zeit nicht mehr stark verfolgt.
    Wo geht das aber eigent­lich hin, wenn alles mög­li­che kas­siert wird?
    Es wird alles immer schwie­ri­ger und wenn das nächs­te Wind­rad zum Ste­hen kommt, dann sind wie­der schlap­pe 7,32 Jah­re dahin.

  2. Soweit ich mich erin­ne­re, haben wir hier­zu­lan­de Gewal­ten­tei­lung. Die ist übri­gens einer der zen­tra­len Bestim­mungs­fak­to­ren über­haupt für eine demo­kra­tisch ver­fass­te Gesell­schaft. Also im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes alternativlos.

    Über die Recht­mä­ßig­keit von Ver­ord­nun­gen und Geset­zen ent­schei­den bei uns also aus­schließ­lich Gerich­te und nie­mand sonst. Die Legis­la­ti­ve beschließt Geset­ze, die Judi­ka­ti­ve befin­det bei Not­wen­dig­keit über deren Recht­mä­ßig­keit. Wäre das nicht so, wür­de unse­rer Demo­kra­tie ein wesent­li­ches Stand­bein feh­len, wir hät­ten Ver­hält­nis­se, wie sie Polen und Ungarn gera­de dabei sind ein­zu­rich­ten: Poli­ti­sche Justiz.

    Natür­lich kann und darf man Rich­ter­ent­schei­dun­gen kri­ti­sie­ren, aber eben fach­lich, also juris­tisch, nicht politisch.

    Poli­tisch darf man sie gut oder schlecht fin­den, aber das bewegt sich aus­schließ­lich im Rah­men per­sön­li­cher Meinung.

    Und das gilt übri­gens auch für das klei­ne Welt­ärz­te­prä­si­den­te­lein Mont­go­me­ry – auch das darf natür­lich sei­ne unmaß­geb­li­che per­sön­li­che Mei­nung äußern und sich dabei mäch­tig wich­tig machen.

  3. Corinna 59 28. Dezember 2021 um 18:04

    Dem Kom­men­tar von Boris ist eigent­lich nichts hinzuzufügen.
    Abge­se­hen viel­leicht davon, dass die Gewal­ten­tei­lung in unse­rem Land in kei­nem wirk­lich guten Zustand ist. So fin­de ich eine Beset­zung des BVerfG durch poli­ti­sche Par­tei­en unerträglich.

    Ist Ihnen schon ein­mal in den Sinn gekom­men, dass es Men­schen gibt, die „eine schwe­re Not­la­ge“ (die jetzt seit 2 Jah­ren anhält) so nicht sehen?
    Zur Defi­ni­ti­on einer schwe­ren Not­la­ge: Sie betrifft im Fal­le Coro­na mit sei­nen Mutan­ten nicht ein­mal 1 % von 83 Mio. Men­schen in D, die erkranken.
    Die Not­la­ge, in der wir uns befin­den, ent­steht wohl eher durch die Maß­nah­men der Poli­ti­ker, eif­rig angst­schü­rend behilf­lich dabei die Medi­en, als durch ein Virus.

    Die von Ihnen in einem ande­ren Arti­kel erwähn­ten Bil­der schwe­rer Fäl­le auf Inten­siv­sta­tio­nen gab es immer. Lan­ge vor Coro­na. Wur­den aber nie gezeigt, warum?

    Sind unse­re Ängs­te vor Atom­ener­gie, Kli­ma­wan­del, Coro­na und was es im Lau­fe der Jah­re alles gab, also wirk­lich berechtigt?
    Oder könn­te die­ses immer imper­ti­nen­ter wer­den­de Schü­ren von Ängs­ten Mit­tel zum Zweck bestimm­ter Inter­es­sens­grup­pen sein?

    Eine ande­re Fra­ge drängt sich hier noch auf:
    Wie reagie­ren die Deut­schen, wenn sie mit einer ech­ten schwe­ren Not­la­ge kon­fron­tiert wer­den? Wel­che Maß­nah­men blei­ben uns noch, falls mal ein wirk­lich gefähr­li­ches Virus auf­taucht, das 70 % der Bevöl­ke­rung dahin­rafft? Ein Krieg? Ein Bür­ger­krieg? War­um die Angst nicht mal auf real exis­tie­ren­de ande­re gefähr­li­che Bedro­hun­gen rich­ten, län­ger andau­ern­de Strom­aus­fäl­le z. B.? Geht alles in Coro­na unter.

  4. Ich den­ke, dass es gera­de nicht gegen die Gewal­ten­tei­lung spricht (‚kein über­zeu­gen­des State­ment’), wenn Gesetz­ent­wür­fe immer öfter von Gerich­ten „kas­siert“ wer­den. Es spricht m.E. eher für Dumm­heit und Maß­lo­sig­keit von bzw. in Par­tei­en, wenn Geset­ze um jeden Pre­si durch­ge­drückt wer­den sol­len, auch wen man genau weiß, dass sie nicht rechts­si­cher sind und kas­siert wer­den. Hier wird viel­mehr durch die Par­tei­en ver­sucht, an den Grund­la­gen des Rechts­staats zu gra­ben, um Poli­tik gegen gel­ten­des Recht durch­zu­drü­cken. Sie­he die bestän­di­gen Ver­su­che, seit Jah­ren immer wie­der, mit immer neu­en Tricks, die ver­brieft ver­fas­sungs- und EU-Rechts­wid­ri­ge „Vor­rats­da­ten­spei­che­rung“ durchzudrücken.

    M.a.W. Poli­tik (der Regie­rung) greift per­ma­nent gel­ten­des Recht an.

    Und dass es regio­na­le Unter­schie­de in der Rechts­fin­dung- und Spre­chung gibt, ist völ­lig nor­mal. Sie ist sogar von Rich­ter zu Rich­ter ver­schie­den, weil das so sein muss. Denn Geset­ze sind immer aus­zu­le­gen und Urtei­le wer­den von Rich­tern (oder Kam­mern mit Schöf­fen o.ä.) gespro­chen, nicht von pro­gram­mier­ten Robo­tern. (Obwohl das ja schon dis­ku­tiert wird, ob man nicht irgend­wann soge­nann­te „KI“ haben wird, die Urtei­le fällt… dann ist aber wirk­lich Gute Nacht) Straf­ma­ße sind eben­falls Befin­dungs­sa­che eines Gerichts. Es kann hier kei­ne Ein­heit­lich­keit geben, da gar kei­ne Instanz exis­tiert, die im jewei­li­gen Fall den Wert von Ein­heit­lich­keit fest­le­gen kann. Wer soll das denn sein, der Rich­tern vor­schrei­ben soll, wie ein­heit­lich Urtei­le zu fäl­len sind? Ok, Orban oder Putin viel­leicht, wenn man unbe­dingt ein Rechts-Will­kür­sys­tem haben will. Von der Demo­kra­tie hat man sich dann aller­dings längst verabschiedet.

    Aber du hast natür­lich recht, Poli­tik ist längst mut­los, um nicht zu sagen, fei­ge gewor­den. Es wer­den kei­ne kla­ren Zie­le mehr for­mu­liert, weil kei­ne Ideen mehr da sind. Es kommt kei­ner­lei Plan mehr zustan­de, weil immer mehr Betei­lig­te nur noch durch­ein­an­der­schrei­en, um ihre jewei­li­gen Pfrün­de zu sichern. Es wird viel zu viel auf Inter­es­sen­ver­bän­de gehört, weil die ihre lau­tes­ten und erprob­tes­ten Schrei­häl­se ins Getüm­mel schi­cken. Aber die ver­tre­ten auch nur ihre eige­nen Inter­es­sen. Und wenn den ver­sam­mel­ten Inter­es­sen­ver­tre­tern per Recht­spre­chung in die Sup­pe gespuckt wird, dann wird eben mas­si­ve Rich­ter­schel­te aus­ge­ru­fen. Das dient alles letz­ten Endes dem Unter­gra­ben unse­rer Gesellschaft.

    War­um hört über­haupt jemand auf das Prä­si­dent­chen Mont­go­me­ry? Nur weil der plärrt? Wen inter­es­siert das? Der hat über­haupt nichts zu sagen.

    Oder auf den Herrn Kubicki? Das ist alles bloß unmaß­geb­li­ches Genör­gel in purem Eigeninteresse.

    Aber lei­der üben die­se Leu­te stän­dig Wir­kung aus und die Medi­en hüp­fen über jedes Stöck­chen, dass die­se Leu­te ihnen hinhalten. 

    Was reg’ ich mich eigent­lich auf… bes­ser wird’s auch mit der neu­en Regie­rung nicht. Und nach dem hilf­lo­sen Her­um­ge­ham­pel in Sachen Coro­na wird alles wie­der so sein wie vor Coro­na, man wird nichts dar­aus gelernt haben und bei der nächs­ten Kri­se fängt alles wie­der genau so von vor­ne an wie Coro­na auf­ge­hört hat.

  5. Ach übri­gens, dass ich’s nicht vergesse:

    Ich wün­sche dir und dei­ner Fami­lie trotz allem Unbill noch ange­nehm ruhi­ge Tage bis zum Jah­res­wech­sel und dann einen „guuden Rutsch“ hin­ein ins neue Jahr 2022!
    🙂

  6. Corinna 59 30. Dezember 2021 um 22:07

    Ich bin libe­ral genug, Ihren Wunsch selbst­ver­ständ­lich ger­ne zu akzeptieren.
    Jede ande­re Reak­ti­on hät­te mich auch überrascht.
    Ein gesun­des und zufrie­de­nes Jahr 2022 für Sie und Ihre Familie.

  7. Ihnen und Ihrer Fami­lie wün­sche ich ebfalls alles Gute für das neue Jahr. Blei­ben Sie gesund und munter.

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