Gesellschaft

Die Zeit der Revoluzzer scheint zurückzukommen

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Mein Sinn für Revolution bleibt unterentwickelt. Wahrscheinlich war ich als junger Mann dafür schon zu alt. Heute kann ich ja zugeben, dass mir die revolutionären Thesen meiner Freunde manchmal auf die Nerven gingen und mitunter auch unheimlich waren.

Manchmal klangen diese Thesen nach Putsch, Aufstand und sogar nach Gewalt. Am Ende liegt meine Haltung auch daran, dass ich doch nur ein typischer Nachkriegsdeutscher bin, der mit Revolution nicht viel am Hut hat. Die anderen waren allerdings auch in meinem Alter. Es muss mit was anderem zu tun haben. Vielleicht neige ich zum Konformismus. Oder es war die mangelnde Erfahrung gepaart mit fehlendem Mut?

In diesen Zeiten (Anfang der 1970er) ging es uns gut. Die Zeiten besserten sich, weil unsere Väter endlich soviel Geld verdienten, dass die Familien es spürten, es machte sich im Lebensalltag bemerkbar. Mit uns meine ich die Arbeiterklasse, aus der meine Frau und ich stammen. Anfang/Mitte der 1950er Jahre wurden wir geboren. Nur wenige aus unseren Schulklassen sind zu höheren Schulen gewechselt. Die meisten absolvierten, wie wir, die Hauptschule, machten danach eine Lehre und haben dann 45-50 Jahre gearbeitet, bevor sie in Rente gingen. Manche nach 47 Berufsjahren mit 63. Ich bin einer von denen.

Lobbyisten behaupten, dass wir (die, die mit 63 in Rente gingen) der Wirtschaft fehlen würden. Grundgütiger – was für eine armselige Lüge! Die Wahrheit ist, dass die Unternehmen überwiegend froh darüber waren, dass wir endlich nicht mehr zu Last fielen. Im Vergleich zu den jungen Leuten erhielten wir für unsere Arbeit nämlich noch relativ gute Gehälter. Mein letzter Chef hat mir mal in einem Kritikgespräch gesagt, er könne für das Gehalt, das er mir zahlen müsste, einen Hochschulabsolventen einstellen, der höchstens die Hälfte des Geldes bekäme und wahrscheinlich besser arbeiten würde als ich. Das Schlimme ist: Er hatte vermutlich Recht. Von Herzenswärme leben solchen Typen nicht. Soviel nur dazu, dass 63jährige in der Wirtschaft angeblich fehlen würden.

In einem Artikel las ich mal, dass wir Deutsche – trotz unserer „Vergangenheit“ -, die dies zunächst einmal nicht nahelegt, uns in revolutionären Zeiten eher zurückhaltend gegeben hätten. Während vor allem die Franzosen eher zur Sache gingen, waren wir nicht bereit zu diesem letzten Schritt. Ob es daran lag, dass die Deutschen von einem Sinn für Gewaltfreiheit geleitet wurden oder ob der deutsche Untertanengeist dafür zur Verantwortung gezogen werden kann, vermag ich nicht zu beurteilen. Historikern haben da, glaube ich, nicht nur eine Meinung. Bis heute hält sich aber das Gerücht, dass die Franzosen viel schneller demonstrieren als wir Deutsche. Ob das immer Bestand hat, steht auf einem anderen Blatt.

Mit alten Revoluzzer-Parolen gegen den Klimawandel

Nun scheint die Stunde der globalen Revoluzzer geschlagen zu haben. Manche Statements zu den Hürden im Kampf gegen den Klimawandel klingen eher nach marxistischer Heilslehre als nach etwas Neuem. Machen wir uns nichts vor, der Kampf gegen den Klimawandel enthält bereits heute Tendenzen eines neuen Klassenkampfes, der – obwohl es um etwas Neues geht – die alten Ressentiments gegen den Kapitalismus, die Reichen und ihre Vasallen (Lobbyvertreter, Politiker) einschließt.

Was sich also nach der Finanzkrise von 2009 zu einer mächtigen Bewegung (Occupy) zu entwickeln schien, bekommt durch den Klimawandel neuen Auftrieb. Die Argumente gegen das Establishment und die das System unterstützenden Institutionen klingen nicht anders als vor zehn Jahren.

Es bedeutet, die Zusammenarbeit mit der Autorität aufzukündigen. Es bedeutet, auf jede erdenkliche gewaltfreie Weise, dem Konsum-Kapitalismus, Militarismus und Imperialismus zu trotzen. Es bedeutet, unseren Lebenswandel anzupassen, dazu gehört auch, fortan vegan zu leben, um den Kräften entgegenzuwirken, die auf unsere Auslöschung aus sind. Und es bedeutet Wellen anhaltenden zivilen Ungehorsams, bis die Maschine kaputt ist. (Original: http://bit.ly/2nqhniU)

Den Planeten zu retten, heißt die herrschenden Eliten zu stürzen

Solche Gedanken wie dieser von Pulitzer-Preisträger Chris Hedges habe ich in den 1970er Jahren schon gelesen, allerdings ohne einen Bezug zum Klima. Ich halte sie für falsch und für sehr gefährlich. Mir ist es lieber in Frieden und mit ein paar Systemmacken zu leben als (mit Gewalt) das Kind mit dem Bade auszuschütten! Wer glaubt, der Klimawandel wirklich nur zu diesem Preis aufzuhalten ist, unterschätzt die Fähigkeiten der Menschheit.

Viel erlebt aber das ist ganz neu (na ja, nicht ganz)

Und jetzt ich wieder: Ich denke an meine Kindheit, meine Jugend und mein ganzes bisheriges Leben zurück und an die stärker werdenden Zweifel, die ich eigentlich erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entwickelt habe.

Zweifel am Zustand unserer Demokratie sind erst in den letzten Jahren dazu gekommen. Lange zuvor entwickelte sich eine Grundskepsis gegen die Wachstumshörigkeit innerhalb unserer Gesellschaft. Alle Straßen waren vollgestopft mit Autos und doch freuten sich die Leute, wenn die Nachrichten neue Zulassungsrekorde meldeten. Jedenfalls empfand ich es so. Nur ist der Konsumzwang hoch ansteckend. Seit Anfang der 1990er Jahre fahren meine Frau und ich zwei Autos. Wir brauchten zwei (fanden wir), weil die Wege zur Arbeit von Stelle zu Stelle länger wurden und sie effizient über öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr erreichbar waren. Es sei denn, man investierte deutlich mehr Zeit.

Das Auftauchen der AfD hatte ebenso ihren Anteil am Verdruss gegenüber der Demokratie, wie schwere Fehler, die unsere Regierungen seit Anfang der 2000er Jahre gemacht haben.

Die verheerende Agenda-Politik des SPD-Kanzlers Schröder gehört aus meiner Sicht maßgeblich dazu. Ich finde, sie hat nur Schlechtes bewirkt. Ich hab oft gesagt, dass die Kapitalisten uns – die Arbeitnehmer – wieder dahin zurückbomben, wo sie (die Arbeitnehmer) sich Anfang der 1970er Jahren in Deutschland befanden. Das ist ein bisschen einfach und historisch kaum haltbar (es ging mir ums „bomben“), aber der seitdem entstandene Billiglohnsektor (einer der größten auf dem ganzen Kontinent) hat unsere Gesellschaft wie keine andere Entwicklung negativ beeinflusst. Die seit Anfang der 1990er Jahre einsetzenden Wirkungen der Globalisierungen mögen zusätzliche Probleme verursacht haben, der Billiglohnsektor ist aufgrund von Schröders Agenda entstanden und hat eine so negative Wirkung entfaltet, dass sie offenbar nicht mehr zu überwinden ist. Zu groß sind die Vorteile, die Unternehmen aus dieser Position vieler Arbeitnehmer ziehen. Wenn wir heute über unsere entsolidarisierte Gesellschaft klagen, so liegt dort einer der Hauptgründe. Dazu gesellt sich ein Egoismus, der vielleicht aus dem Hang zur Individualisierung zwangsläufig entstehen musste und der die Lage von Menschen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen leben, noch mehr erschwert.

Zukunftsangst, Unzufriedenheit

Die Anzahl von Themen, die Unsicherheit und Zukunftsängste in die Köpfe der Menschen pflanzen und die damit naturgemäß einhergehende politische Unzufriedenheit, lassen sich zu einem Brei zusammenrühren, der wohl jede Gesellschaft auf die Probe stellt. Dafür hat man uns die AfD auf den Hals geschickt.

Bestimmte Entwicklungen auf der Welt (Trump, Johnson, Salvini, Strache) sind im Vergleich zu anderen Möglichkeiten noch die demokratisch daher kommenden Erscheinungen. Die lassen sich mit Argumenten, spätestens durch Wahlen im Zaum halten. Wenn es aber nach Leuten wie Hedges geht, sind Wahlen für nichts gut. Er rechnet sie als Popanz dem System zu, das er offenbar überwinden will. “ Wahlen, Lobbyarbeit, Petitionen und Proteste, um die herrschenden Eliten dazu zu bringen, rational auf die Klimakatastrophe zu reagieren, haben sich als genauso ineffektiv erwiesen wie das Flehen der an Skrofulose Erkrankten an Heinrich VIII., sie durch königliche Berührung zu heilen.“

Die Schwächen des kapitalistischen Systems, das Politiker gern durch den Begriff „soziale Marktwirtschaft“ ersetzen, dürfen benannt und kritisiert werden. Die linken Kritiker unserer Gesellschaftsordnung müssen auf die Entwicklung des Sozialetats im Bundes sehen und sich dabei zusätzlich vor Augen halten, dass wir, Bund und Länder zusammengenommen, inzwischen fast eine Billion Euro für Soziales ausgeben. Geld, das für Zukunftsinvestionen fehlt.

Finanzkrise – Occupy-Bewegung

Nach der Finanzkrise gab es eine breite Diskussion über den Wert des kapitalistischen Systems. Alles schien in Frage zu stehen.

Sogar konservative Journalisten der Klasse von Charles Moore stellten Fragen, die bis dahin für Konservative unaussprechlich schienen. Das hat sich alles wieder nivelliert. Wie alles miteinander verwoben ist, erkennen wir daran, dass die nächste Blase längst wieder zu platzen droht, der Euro bleibt nur stabil, solange die EZB nicht auf Kosten von uns Sparern das Zinsniveau an der NULL-Linie hält. Bald erwarten wir Strafzinsen, wenn jemand 100.000 Euro auf dem Konto hat. Unabhängig von dieser unschönen Begleiterscheinung fragt man sich, welcher Art von Geschäftsmodellen Banken heutzutage eigentlich noch erfolgreich nachgehen könnten. Sagen Sie’s nicht! Das hatten wir schon. Die Deutsche Bank ist ausgestiegen und ihre Zukunft bleibt fraglich.

Dass die EZB Staatsanleihen „schwächerer“ Mitgliedsländer für Abermilliarden kauft, lässt den Wert des Euro sinken. Das war aus deutscher Sicht nur solange gut, wie es unsere Exporte angetrieben hat. Nun haben wir konjunkturelle Probleme und die Importpreise steigen, weil der Euro-Kurs von der EZB durch den Kauf der Staatsanleihen niedrig gehalten wird. Der Mechanismus verliert seine Wirkung und die EZB steht ohne Tools da. Der Verantwortliche ist inzwischen nicht mehr im Amt. Auch seine Nachfolgerin muss damit klar kommen, dass sie kaum weitere Optionen zur Verfügung hat (Helikoptergeld).

Das ganz große globale Rad soll gedreht werden, wenn es nach den Klimaschützern geht. Wenn ich aber manche dieser militanten Weltverbesserer höre, sollen wir (vorher?) unsere Regierungen, nicht zu vergessen die Wirtschaftssysteme (btw: auch das chinesische?) abschaffen. Wenn wir das getan haben, wäre es nach Hedges und anderen erst möglich, wirklich effiziente Schritte zur Rettung des Klimas zu tun.

Das Glaubensbekenntnis der Klimabewegung enthält fundamentale Vorwürfen gegen alle, die nicht „dabei“ sind oder die nicht so mitziehen, wie sie es sich vorstellen. Ganz urdemokratisch will man deshalb einfach alle politischen Systeme ersetzen. Ökonomie ist dann immer noch möglich, nur stellt man sich vermutlich etwas sehr viel anderes darunter vor, als das, was wir heute darunter verstehen. Kann ja nicht anders sein, weil die traditionelle Ökonomie irgendwie mit dem Wachstum verflochten ist. Und das ist ja sowas von drüber.

Drohungen mit der Apokalypse, auch wenn sie von wissenschaftlicher Expertise begleitet ist, werden nicht viel bewirken, weil die Menschen für alle erkennbar ans Ende ihrer Existenz geführt würden. Und zwar so oder so.

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Quelle Featured-Image: HorstSchulte.com

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