Deutschland: Wie egoistisch dürfen Menschen sein?

Horst Schulte

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„Hart aber fair“ gings zu. Das Thema war schwierig, die bekannten Ansichten zur Migrations- und Flüchtlingskrise prallten aufeinander. „Spiegel“ – Kolumnist Nikolaus Blome löste starken Widerspruch aus, als er befand, dass Flüchtlinge besser gerettet und in die libyschen Lager, die für ihre Unmenschlichkeit berüchtigt sind, zurückgeführt werden sollten, als im Mittelmeer zu ertrinken.

Dieser Teil der Kontroverse macht klar, worum es geht: Humanität vs. Rationalität. Die Zeit für moralische Argumente scheint an ihr Ende gekommen zu sein. Auch deshalb, weil viele Leute das nicht mehr hören können.

Dass die Zahl von Flüchtlingen weltweit inzwischen 80 Millionen übersteigt, zeigt die Dimension des Problems. Wer die Diskussionen verfolgt sieht Parallelen zur Klimadebatte. Auch hier scheinen viele zu glauben, Deutschland sei der Nabel der Welt. Vorreiter, tugend- und vorbildhafter Stichwortgeber.

Hat sich das Bewusstsein für das umstrittene Thema im Land gedreht? Ich glaube dies daran zu erkennen, dass auf die schlimmen Bilder und Berichte viel weniger gefühlig reagiert wird als noch vor wenigen Jahren.

Das gilt auch für die schlimmen Berichte über die Lage der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln oder auf dem Festland, um die von Algerien provozierte Landnahme von Flüchtlingen in der spanischen Enklave Ceuta und die brutale Reaktion der dortigen Polizei. Selbst Bilder von kleinen Kindern, die tot aus dem Wasser gezogen werden, lösen keine vergleichbaren Reaktionen aus (Alan Kurdi).

Im Meer bei Ceuta rettete ein Polizist ein Baby, das fast im Mittelmeer ertrunken war. Es braucht nicht viel, damit ich anfange zu weinen. Fast gleichzeitig fluche ich dann über die verkommene EU und die von EU-Funktionären gern betonten „Werte“.

Viele Menschen, die diese Bilder gesehen haben, werden ganz für sich still gelitten haben. Wer bleibt davon schon unberührt?

Mir leuchtet der Standpunkt der evangelischen Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber ein. Ich kann ihn mir, anders als früher, trotz allem nicht mehr zu eigen machen.

Dass die Bischöfin mit Inhalten des UN-Flüchtlingspakts argumentierte, habe ich sehr wohl zur Kenntnis genommen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie sehr der Migrations- wie auch der Flüchtlingspakt in der Kritik standen. Zum einen merkten Rechtskonservative an, dass der Migrationspakt als Blaupause für sich nach und nach herausbildende gesellschaftliche Normen für die gesamte nationale Flüchtlingspolitik missverstanden, ja missbraucht werden könne. Andererseits wurde das Papier (von Links) als unverbindliches Papier dargestellt.

Dass Bosse-Huber so argumentierte, belegt, wie er verstanden und benutzt wird. Ich fand, es war von Beginn an klar, dass genau dies geschehen würde. Es existiert bereits wenige Jahre nach seiner Unterzeichnung eine normative Dimension.

Dass die Grünen den Grenzübertritt von Flüchtlingen (Migranten) nach Deutschland erleichtern wollen, ist im Abgleich mit dem UN-Papier kaum misszuverstehen. Gut, wenn man nicht nur auf eigene politische und moralische Vorstellungen, sondern auf offizielle internationale Regelwerke Bezug nehmen kann.

Zudem halten wir es für erforderlich, dass Deutschland auch international eine führende und verlässliche Rolle bei der Implementierung des Migrationspaktes einnimmt. […]

Die Staaten Europas und insbesondere Deutschland sind in der Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen, denn Menschenrechte müssen für alle gelten – egal wo, egal wann und egal für wen, auch im Transit, auch in Bewegung.

Migration geordnet und legal gestalten: Grüne im Bundestag

Der Verpflichtung, von dem im Grünen Papier die Rede ist, ist Deutschland aus meiner Sicht überaus großzügig nachgekommen. Angesichts der Notlage so vieler Menschen (80 Mio. Flüchtlinge weltweit) wird (außerhalb der AfD) niemand davon ausgehen, dass die damit verbundenen Probleme mittelfristig zu lösen sind. Das Thema ist eines, das Generationen nach uns beschäftigen wird. Die immer sichtbarer werdenden Folgen des Klimawandels werden alle damit verbundenen Herausforderungen noch erheblich vergrößern. Insofern ist es richtig, dass diese Aufgabe nur global lösbar ist.

Dass Grüne eine führende Rolle bei der Umsetzung der Ziele des UN-Migrationspaktes für Deutschland fordern, verstehe ich vor dem Hintergrund der Situation in Deutschland ganz und gar nicht. Dass dieses herausragende deutsche Engagement auf unsere NS-Vergangenheit zurückzuführen ist, muss nicht extra betont werden. Ich frage mich allerdings, wo die Belastungsgrenze eines Landes in dieser Hinsicht erreicht wäre. Dass Deutschland mit 100-jähriger Verspätung einen weiteren Völkermord eingestanden hat, sich dafür entschuldigt und nicht nur moralisch Verantwortung übernimmt, mag für viele vorbildlich sein. Ich verstehe es nicht und ich distanziere mich von allem, was das Bundesverfassungsgericht zu extremeren Positionen provozieren könnte, als die, die wir im Zusammenhang mit Versäumnissen beim Klimaschutz erfahren durften. Auch die Milliarde, die an Wiedergutmachung geleistet wird, belastet schließlich nachfolgende Generationen.

In Europa ziehen einige Länder nicht mehr mit. Nicht nur Ungarn, Polen oder die Tschechen sind ausgeschert. Auch die von uns lange als liberale Vorbilder gesehenen Niederländer oder Dänen ziehen die Reißleine.

Ob die Dänen mit ihren frischen Plänen zur Abwehr jeglicher Migration rechtlich nicht auf Sand gebaut haben, wird sich weisen. Der weiße Elefant steht unübersehbar im Raum. Es ist problematisch, insbesondere in Deutschland, mit Vergleichen zu arbeiten (Emcke Rede – Grüner Parteitag). Die Republikaner hatten ein Motto, das mir (leider) in den Kopf kommt, wenn ich an die trotz aller Änderungen am Asylgesetz vorherrschende deutsche Haltung zur Migration denke: „Das Boot ist voll“.

Mir ist egal, welchen Grad an Unverständnis und Ablehnung mein Text erntet. Ich habe mich geirrt. Nicht erst seit 2015 habe ich die Unterstützung von Flüchtlingen richtig gefunden und mich (wenn auch kurz) persönlich dafür engagiert. Ich habe die liberale Flüchtlingspolitik Merkels und ihrer Regierungen richtig gefunden.

Heute sehe ich das anders. Meine Haltung war falsch. Viel zu viele Dinge wurden nicht bedacht. Vor allem habe ich übersehen, dass es diese Gesellschaft überanstrengt und die Polarisierung diese auch mit diesem Thema auseinandergetrieben hat.

Die Folgekosten der Pandemie werden gewaltig sein und die Unsicherheit, die die Menschen durch offene, nichtsdestotrotz drängende Fragen (Klimawandel, digitale Veränderung der Arbeitswelt (Arbeitsplätze), Zukunft des Industriestandortes Deutschland, Bildungsdefizite, Rentensystem, Kosten der sozialen Absicherung, Sozialstaat, Zinspolitik der EZB, Demokratie) wird weiter zunehmen. Das heißt, dass auch die Unzufriedenheit mit der Politik der etablierten Parteien zunehmen wird, denn sie weigern sich, die notwendigen Antworten zu erarbeiten und zu vermitteln. Man mag den Grünen zugutehalten, dass sie zumindest in ihren Ansichten über viele dieser Themen klar sind. Ob sie über die Managementqualitäten und Ressourcen verfügen, um diese kostspieligen und aus meiner Sicht schlichtweg unbezahlbaren Angebote, umsetzen zu können, herrschen Zweifel – wohl nicht nur bei mir.

In Deutschland leben Millionen von Migranten und Flüchtlingen. Viele sind nach 2015 ins Land gekommen. Schauen wir uns die mäßigen Fortschritte bei der Integration an und lassen uns nicht von positiven Berichten blenden. Dem stehen gewaltige Kosten gegenüber, die unser Land (nachfolgende Generation) massiv belasten werden. Ich halte es für seltsam, dass dieses Faktum an denen vorbeigeht, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuletzt bejubelt haben.

Zu viele Fragen werden nicht beantwortet. Der dänische oder ungarische Weg mit Migration umzugehen, ist unsympathisch und vielleicht auch nicht konform mit dem EU-Recht. Trotzdem finden solche Regelungen / „Alternativen“ Zustimmung bei der Bevölkerung der betreffenden Länder.

Hier müssen wir mehr darauf achten, dass unsere Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriftet. Im nächsten Jahr wird in Frankreich die/der nächste Präsident/in gewählt. Hoffentlich heißt sie nicht Marine Le Pen. Es wäre in Frankreich der Beginn einer anderen Migrationspolitik mit unvorhersehbaren Auswirkungen auf die Stabilität des Landes. Das wäre meines Erachtens auch das Ende der EU.

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Horst Schulte

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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Schlagworte: Debattenkultur Egoismus

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4 Gedanken zu „Deutschland: Wie egoistisch dürfen Menschen sein?“

  1. ClaudiaBerlin 127 19. Juni 21 um 10:53

    Ich denke, deine Meinung ändert sich entsprechend deinem Medien-Konsum! Wer vor allem News, Medien und TV-Formate konsumiert, die auf Skandalisierung, Herausarbeiten der Widersprüche, Kritik um jeden Preis, Erzeugen von Angst, Ressentiment bis zum Hass, sowie das Raffen von Aufmerksamkeit durch diese „Haltungen“ aus sind, muss sich nicht wundern, dass sich auch das „Meinungskostüm“ verändert. (Dies alles machen mittlerweile bei weitem nicht nur „alternative“ Medien von rechtsaußen!)

    Deshalb übe ich seit einiger Zeit Abstinenz und meide die mutwillige Inszenierung von Kontroversen – suche eher konstruktive Beiträge, sachliche Berichte, Geschichten vom Gelingen, aussichtsreiche Bestrebungen zur Lösung von Problemen – und hey, es geht mir deutlich besser, vor allem erschöpft sich mein Denken über die Welt nicht mehr im Mitsingen der Abgesänge.

    Hier nun mal eine sachliche Info zu Migranten:

    ———————-
    Arbeitsmarktbeteiligung und Lebensunterhalt
    Die Erwerbsquoten unterschieden sich im Jahr 2019 deutlich im Hinblick auf den Migrationshintergrund: In der Bevölkerung mit Migrationshintergrund lag die Erwerbsquote bei 73 %; Menschen ohne Migrationshintergrund waren zu 82 % erwerbstätig. Dies liegt vor allem an der jeweiligen Anzahl der Nichterwerbspersonen, die keine Arbeit suchen, weil sie sich in Ausbildung befinden oder ihre Rolle im Haushalt und in der Familie sehen.
    ——————–

    Wo ist denn in diesen Zahlen das große Drama? Die unbezahlbaren Kosten usw. ? Ich füge zur Info hinzu: Eine Menge Flüchtlinge DÜRFEN während ihrer Antragszeit nicht arbeiten, es ist hier „unsere“ Schuld, dass sie der Allgemeinheit eine Zeit lang auf der Tasche liegen.

    Aus derselben Quelle:

    „Im Jahr 2019 hatten 21,2 Millionen der insgesamt 81,8 Millionen Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund (Zugewanderte und ihre Nachkommen) – das entspricht einem Anteil von 26,0 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Von den 21,2 Millionen Personen mit Migrationshintergrund waren 11,1 Millionen Deutsche und 10,1 Millionen Ausländer (52,4 bzw. 47,6 Prozent).
    ….Die meisten der 21,2 Millionen Personen mit Migrationshintergrund stammten im Jahr 2019 aus der Türkei (13,3 Prozent), gefolgt von Polen (10,5 Prozent), Russland (6,5 Prozent), Rumänien und Italien (4,8 bzw. 4,1 Prozent). Kasachstan und Syrien sind mit Anteilen von 5,9 bzw. 4,0 Prozent die wichtigsten nicht-europäischen Herkunftsländer (immer bezogen auf das eigene Geburtsland bzw. das Geburtsland der Eltern).“

    Jetzt denk dir mal alle Migranten weg: in DE ginge fast nichts mehr! Überall, wo das Arbeiten richtig anstrengend ist, sind Migranten am Werk – ich lass mich viel beliefern, nur im Ausnahmefall ist da mal ein „Bio-Deutscher“ dabei, auch keine Türken, die haben schon lange bessere Jobs.

    Von den 2013 bis 2016 gekommenen Flüchtlingen hat schon jetzt fast die Hälfte einen Job, was besser ist als bei früheren Flüchtlingswellen:
    https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt-fluechtlinge-103.html

    Die Flüchtlinge halte ich bei alledem nicht für ein uns „überforderndes“ Problem. Sofern sie bleiben, werden sie und ihre Kinder dazu beitragen, die Last der „Überalterung“ zu tragen.

  2. Claudia 127 21. Juni 21 um 09:32

    „Liberalisiert“? Was heißt das denn konkret? Natürlich ist es nicht mehrheitsfähig, einfach alle kommen zu lassen, die wollen. Das wollen auch Grüne und Linke nicht. Hier mal eine Zusammenfassung der grünen Flüchtlingspoltik:

    https://www.gruene.de/themen/fluechtlinge

    Da steht doch viel Sinnvolles drin – und es ist weit entfernt vom radikalen „Grenzen öffnen“.

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